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Kultur: Hinter den Spiegeln - Denn sie wissen nicht, wer sie sind

Die Leinwandhelden der 50. Berliner Filmfestspiele misstrauen ihrer IdentitätChristiane Peitz Tom Ripley nähert sich seinem schlafenden Freund und betrachtet die Szene im Zugfenster.

Die Leinwandhelden der 50. Berliner Filmfestspiele misstrauen ihrer IdentitätChristiane Peitz

Tom Ripley nähert sich seinem schlafenden Freund und betrachtet die Szene im Zugfenster. Er sieht zwei Gesichter, die zum Spiegelbild verschmelzen. In der Verschiebung der Profiel ergibt sich eine doppelte Identität - ein gestohlenes Ich, dem anderen im Schlaf geraubt. Eine Szene aus "Der talentierte Mr. Ripley" von Anthony Minghella.

Am I real? Gibt es mich wirklich?, fragt "Der Mondmann" alias Andy Kaufman alias Jim Carrey und trägt ein Grinsen in seinem Mondgesicht, wie es einst von der Katze in Lewis Carrolls Wunderland übrig blieb. Milos Forman versteckt den Komiker Kaufman im Labyrinth zwischen Fakes und "wahrer" Geschichte, Showgeschäft und Selbstinszenierung. Wer ist dieser Typ? Kaufmans Fans und Manager erfahren es nicht. Formans Publikum erfährt es auch nicht.

Sieben Leben hat Adam - und sieben Frauen, in "Paradiso" von Rudolf Thome. Mindestens zwei Leben hat der amerikanische Familienvater - in "Magnolia" von Paul Thomas Anderson. Im Angesicht des Todes wird er von der Schuld seiner frühen Jahre heimgesucht, und Anderson filmt den Angriff der Vergangenheit auf die übrige Zeit. "American Psycho" ruft das klassische Vexierbild von Dr. Jekyll und Mr. Hyde auf den Plan, den smarten Börsianer, der sich nachts als Serienkiller entpuppt. Und Volker Schlöndorff setzt das Schattendasein der RAF ins Bild. "Die Stille nach dem Schuss" kolportiert die Legende einer untergetauchten Terroristin, die am Ende im Fangnetz ihrer fingierten Biographien erstickt.

Die 50. Berlinale war ein Fest der Doppelgänger, eine Spurensuche nach verlorenen Identitäten. Die Filme: Versuchsanordnungen und Verwirrspiele, die das Spiel im Spiel reflektieren: sei es im psychoanalytischen Szenario von Laetitia Massons "Love Me" oder - "An jedem verdammten Sonntag" - auf dem Sportplatz von Oliver Stone. Die Stars: Helden, die längst nicht mehr wissen, wer sie sind - und die es vielleicht niemals wussten. Sie schauen in den Spiegel und begreifen nicht, wer da zurückschaut. Und das Kino zeigt den Blickwechsel zwischen den Alter Egos.

Damals, vor 105 Jahren, wurde es von Brüdern erfunden: von den Lumières und den Skladanowskys; sogar Georges Meliès hatte einen filmenden Bruder. Vielleicht hatte es deshalb von Anfang ein Doppelgesicht und wurde zum Medium für parallele Realitäten. Und vielleicht kommt es deshalb am ehesten zu sich, wenn es sich in dieser Parallele verliert. Wenn es fragt: Wer bin ich - ja, bin ich überhaupt wer? Selten habe ich auf einem Filmfest so viele Überblendungen gesehen wie auf der diesjährigen Berlinale: Doppelbelichtungen, Unschärfen, Janusköpfe und - immer wieder - Slow Motion: Verweile doch, auf dass ich begreifen kann. Aber die Tricks der Technik verraten nicht, was sich hinter dem Spiegel verbirgt. Bestenfalls kommt dort die nächste Projektionsfläche zum Vorschein.

1999, auf der letzten Berlinale des 20. Jahrhunderts, ließ sich die Rückkehr der Politik und des Sozialen beobachten. Nichts ist, wie es scheint, offenbarten die Filme und ermöglichten den Ausblick auf eine hoffnungslos fragmentierte Wirklichkeit. Traue deinen Augen nicht: Weltbild ade, kein Überblick, nirgends. Niemand ist, was er scheint, erzählt das Kino nun auf der ersten Berlinale des neuen Jahrhunderts. Das Ende der Gewissheiten, noch radikaler - oder verzweifelter - auf die subjektive Perspektive verengt. Am neuen Festival-Spielort, auf dem Potsdamer Platz, manifestieren sich Irritationen in den Architekturen der neuen Mitte Berlins: auf der einen Seite die Blendfassaden der debis-Gebäude und gegenüber, unterm Zeltdach der Sony-Piazza, jede Menge Schaufensterglas, in dem Passanten sich spiegeln.

Mag sein, dass es an der digitalen Revolution liegt. Jedes Kind weiß mittlerweile, dass Bilder nicht abbilden. Dass man die Wirklichkeit mithilfe der neuen Medien fingieren kann und ebenso Helden, Schauplätze, Vergangenheit. Da ist es nur logisch, wenn das Misstrauen in die Wahrheit der Bilder auch die Individuen erfasst. Das Ego ist reichlich angekratzt. In jedem von uns steckt ein Stück Forrest Gump.

Es gibt Filmemacher, die das Projekt der Aufklärung dennoch nicht aufgeben möchten. Oliver Stone zum Beispiel. In seinem Football-Film "An jedem verdammten Sonntag" frönt er erneut den Manierismen eines virtuosen Regie-Narzissmus und möchte dabei doch niemals den Überblick verlieren. In einer Nebenrolle als Sportreporter steht Stone auf der Kommando-Brücke hoch oben über dem Spielfeld und zuckt ratlos mit den Schultern, wenn der Ball an die gegnerische Mannschaft geht. Die Spieler, unten auf dem Rasen, schlagen sich derweil die Köpfe ein. Eine kurze, eigentlich belanglose Szene. Aber Oliver Stone verkörpert in ihr die Hilflosigkeit dessen, der mit der Kamera Sinn stiften möchte und dabei ahnt, dass dieser Plan längst gescheitert ist.

Samstag Nacht auf CNN: ein Interview mit Stones Altersgenossen Wim Wenders. Der Reporter fragt ihn nach seinem Los Angeles-Bild. Die Idee zu "The Million Dollar Hotel", so Wenders, stamme von Bono, einem Iren. Das Drehbuch habe ein Kanadier geschrieben, hinter der Kamera stand ein Grieche, und er selbst sei bekanntlich Deutscher. In der Summe entsteht Amerika - als europäische Projektion. Europa und Hollywood: ein weiterer Blickwechsel. Meine amerikanische Freundin sagt über den Potsdamer Platz, er sehe aus wie eine Kopie von Las Vegas, jenem Wüstenort, der seinerseits Kopien von Europa und der restlichen Welt versammelt.

Die Verstörung greift auch die politischen Themen an. In "Mr. Death" portraitiert der amerikanische Dokumentarfilmer Errol Morris den Holocaust-Leugner und Todesmaschinen-Konstrukteur Fred A. Leuchter. Ein liebenswerter, naiver Mann, der entsetzliche Dinge sagt. Errol Morris verfremdet Leuchters angeblich wissenschaftlichen Auschwitz-Grabungen mit den Mitteln des Kunstkinos und lässt einen anderen Historiker den Gegenbeweis antreten. Aber die Bilder können nicht bezeugen, dass Leuchter lügt. Sie kommen seinem berüchtigten Auschwitz-Report nicht bei. Bestenfalls können sie erhellen, dass die historische Wirklichkeit jenseits der Bilder liegt.

Romuald Karmakar hat das begriffen. In seinem "Himmler-Projekt" enthält er uns die Bilder vor. Er lässt Manfred Zapatka jene Durchhalte- und Rechtfertigungsrede vorlesen, die Heinrich Himmler 1943 in Posen vor SS-Generälen hielt. Indem er drei Stunden lang nichts anderes zeigt außer einen Schauspieler in einem Studio vor einem Tisch mit einem Manuskript, legt er offen, was die Worte verschweigen. Himmler beschwört die Anständigkeit der SS und verrät auf diese Weise, dass es mit deren Sekundärtugenden nicht gerade weit her ist: Sie ist kein Orden, wie Himmler es litaneienhaft beschwört, sondern ein chaotischer, korrupter Haufen. Manfred Zapatka, dessen Versprecher im Film belassen wurden, verweigert mit seiner nüchternen Diktion sowohl die Identifikation als auch die vorschnelle Distanzierung von jenem Nazi, dem er seine Stimme leiht. Und Karmakar spart das originale Tondokument ebenso aus wie Atmosphäre und Szenerie im Posener Schloss. Erst die Aussparung eröffnet den Freiraum des Zweifels, der vielleicht so etwas wie eine Erkenntnis ermöglicht.

Bleibt also nur der Purismus? Das verweigerte Bild? Das wäre das Ende des Kinos. Dann lieber Johann van der Keuken. Der niederländische Dokumentarist macht seit Jahrzehnten politische Film und ergreift in seinen Reise-Essays Partei für die so genannte Dritte Welt und die Opfer unseres Reichtums. Auch er wird in seinem neuen Film "Die großen Ferien" ungewöhnlich privat. Van der Keuken erfährt, dass er Krebs hat und probiert aus, wie die Krankheit seine Wahrnehmung verändert. Er zeigt die Slums in Rio und die Drachenflieger über Rio, und er erzählt, dass die Drachenflieger die Slums niemals betreten würden. Zwei Welten, getrennt. Van der Keuken war in den Slums. Und nun gleitet er selbst im Drachenflug über sie hinweg, mit einer digitalen Kamera in der Hand. Überrascht stellt er fest, dass er keine Angst vor dem Absturz hat. Nervös ist er schon. Und freut sich an seiner neu gewonnenen Ungewissheit.

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