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Kultur: Hinter tausend Stämmen keine Welt Falsche Fährten:

„Vic+Flo ont vu un ours“ im WETTBEWERB.

„Ich bin alt genug, um zu wissen, dass ich Menschen hasse“, sagt die 61-jährige Victoria (Pierrette Robitaille), die gerade aus dem Gefängnis entlassen wurde. Dass diese Selbsterkenntnis zutreffend ist, macht Regisseur Denis Côte bereits während der Anfangsminuten von „Vic+Flo ont vu un ours“ („Vic+Flo haben einen Bär gesehen“) sehr anschaulich. So putzt die Frau mit der Lockenmähne in der Eröffnungsszene einen Jungen runter, der auf seiner Trompete herumtutet, was allerdings noch witzig wirkt. Doch als sie wenig später bei ihrem gelähmten Onkel eintrifft und dessen jungen Betreuer kühl nach Hause schickt, merkt man schon, wen man hier vor sich hat – und dass dieser in der frankokanadischen Provinz angesiedelte Film trotz seines gelegentlich leichten Tons keine Komödie ist.

Vic zieht in die Waldhütte ihres Onkels, wo sie regelmäßig von einem Bewährungshelfer besucht wird. Irgendwann trifft ihre wesentlich jüngere Geliebte Florence (Romane Bohringer) ein, die sie aus dem Gefängnis kennt. Auf die Freiheit reagieren beide sehr unterschiedlich: Die Ältere will einfach nur ihre Ruhe, ist zu keinerlei Aktivität zu bewegen. Flo hingegen geht bald auch allein auf Erkundungstouren, sie trinkt in einer Bar, schläft mit einem jungen Kerl. Die Abgeschiedenheit und die klammernde Art von Vic missfallen ihr. Es herrscht ein deutliches Ungleichgewicht in dieser Beziehung, was in den mit einiger Schärfe und großer emotionaler Aufrichtigkeit geführten Dialogen klar zu Tage tritt. Einiges deutet darauf hin, dass es nicht lange gut gehen wird mit den beiden. Die kommenden Wendungen sind jedoch keineswegs absehbar. Denis Côte legt falsche Fährten und sorgt ab der Mitte des Werks für einige drastische Überraschungen, als eine Figur aus Flos Vergangenheit plötzlich zwischen den Bäumen hervortritt.

Waldfilme haben in den letzten Jahren im Berlinale-Wettbewerb Konjunktur. „Bal – Honig“ gewann 2010 den Goldenen Bären. Ein Jahr später ließ Ulrich Köhler seinen „Schlafkrankheit“-Protagonisten im Dschungel verschwinden. Letztes Jahr verschluckte ein deutscher Wald die Mutter aus „Was bleibt“. In der aktuellen Konkurrenz versucht der Pfarrer aus „In the Name of“, im Wald vor seinem schwulen Begehren davonzujoggen und in „Gold“ schlägt sich der Treck durch endlose nordamerikanische Wälder.

„Vic+Flo“ setzt die Bäume vergleichsweise beiläufig in Szene und vermeidet es, den Wald zur Metapher des Unheimlichen aufzublasen. Denn es wird auch so klar, dass die Bäume auf Flo wie Gefängnisstäbe wirken. Für Vic dagegen ist der Wald ein Schutzraum. Einmal schaut sie aus einer Hängematte hinauf ins Blätterdach – ein seltener Glücksmoment. Sonst hängt für sie alles von Flo ab, die sie mit allen Mitteln an ihrer Seite halten will. Und so geht mit dem hereinbrechenden Horror für Vic auf verdrehte Weise zugleich ein Traum in Erfüllung. Nadine Lange

11.2., 15 Uhr (Friedrichstadt-Palast), u. 22.45 Uhr (HdBF), 17.2., 20.30 Uhr (Berlinale-Palast)

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