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Ocean-Album "Channel Orange": Dr. Faust fährt Taxi

Er rettet den Hip-Hop: der kalifornische Sänger Frank Ocean hat ein grandioses Debütalbum herausgebracht: "Channel Orange" kann bereits jetzt als eine der besten Platten des Jahres gelten

Die Frau heißt Cleopatra, von ihrem Freund wird sie Königin Afrikas genannt. Das wirkt wie ein Witz, denn sie ist eine Stripperin. Cleopatra sitzt vor ihrem Garderobenspiegel, trägt Make-up auf, malt sich Lippenstift auf den Mund und stöckelt schließlich auf sechs Zoll, also 15 Zentimeter steilen Highheels ihrem Arbeitsplatz entgegen, dem Club Pyramid in Las Vegas. „Pyramids“ ist das zweiteilige, zehnminütige Herzstück des gerade erschienenen Debütalbums des kalifornischen Sängers Frank Ocean. Ein episches Ungeheuer von einem R&B-Song, mit dem Ocean demonstriert, dass er zu Recht als eine Art Pop-Messias gefeiert wird, als Retter eines abgewirtschafteten Genres.

Was bedeutet es, wenn sich eine „schwarze Königin“ namens Cleopatra für Geld ausziehen muss? Hat man je eine auch nur annähernd so irre Variation auf den alten Topos der fremdbestimmten Arbeit aus den Tiefen der Soul-Tradition gehört? Und scheppert die dezent eingesetzte Rave-Fanfare dazu auch als Parodie und Abgesang auf jenen überproduzierten Charts-Trash, der dem Genre R&B den Ruf einer schäbigen Hintergrundmuzak eingebracht hat? Ocean ist gut darin, Fragen aufzuwerfen. Die größte lautet: Was könnte R&B heute, im Jahr 2012, noch bedeuten?

Frank Ocean wuchs in New Orleans auf, zog 2009 nach Los Angeles, nachdem sein Studio dem Hurrikan Katrina zum Opfer gefallen war, und unterschrieb wenig später einen Vertrag als Songschreiber bei Def Jam Records. Später schloss er sich dem Hip-Hop-Kollektiv Odd Future an, und wenn man den Worten seiner Mitstreiter trauen darf, dann wurde der mittlerweile 24 Jahre alte Ocean schnell zu einer Art Mentor des Kollektivs. Kollege Earl Sweatshirt nannte ihn einmal in einem Interview „die Stimme der Vernunft“. Kein Wunder, schließlich triefen die Lyrics von Odd-Future-Rappern wie Tyler, the Creator nur so vor spätpubertären, misogynen Sex-&-Crime-Fantasien. Dem penibel produzierten und mit hoher Kopfstimme versehenen Neo-Soul Oceans hingegen liegt nichts ferner, als auf Schockeffekte zu vertrauen.

Im letzten Jahr veröffentlichte Frank Ocean nach Differenzen mit dem Label sein erstes Solowerk „Nostalgia, Ultra“ – eher ein Mixtape als ein Album – auf eigene Faust im Internet. Damit gerieten die Dinge für ihn schnell in Bewegung, nicht nur in musikalischer Hinsicht. Eine Textzeile sorgte in der Blogosphäre für Aufregung, weil sie als Plädoyer für die gleichgeschlechtliche Ehe gelesen werden kann: „I believe that marriage isn’t between a man and woman, but between love and love.“ Als dann vor einigen Wochen Journalisten in Oceans Debütalbum ein paar maskuline Personalpronomen an verdächtigen Stellen aufspürten, reichte es dem Nachwuchs-Crooner offenbar. Im Stil einer autobiografischen Erzählung berichtete er auf seiner Webseite von einer ersten unglücklichen Liebe als 19-Jähriger – zu einem Mann.

Ein Coming-out, auf das es überraschend viele positive Reaktionen gab. Der Zeitpunkt kurz nach Barack Obamas Bekenntnis zur gay marriage hätte kaum besser gewählt sein können. Doch der Wirbel um Oceans vermeintliche Enthüllungen zeigt, dass manche Bereiche des amerikanischen Hip-Hop und R&B immer noch verriegelt und vernagelt scheinen, wenn es um Fragen sexueller Orientierung geht. Der Rapper Lil B etwa, geliebt und gehasst für seine Verwirrspiele um die eigene Identität, erhielt prompt Morddrohungen, als er im letzten Jahr verkündete, er werde sein neues Album „I’m Gay“ nennen. Eine Subkultur, die ihr emanzipatorisches Bewusstsein bis zur Bürgerrechtsbewegung zurückverfolgen kann, stößt an die Grenzen ihrer eigenen Toleranz. Homophobie ist im Mainstream-Hip-Hop weitverbreitet, genauso wie der stolz ausgestellte, stumpfe Materialismus.

Frank Ocean hat sich nie explizit zu diesen Themen geäußert, und beim Abklopfen von Kunst auf ihren autobiografischen Gehalt muss man ohnehin vorsichtig sein. Dennoch besitzt das Album „Channel Orange“ eine politische Dimension. Wenn Ocean in seinen Stücken sowohl Männer als auch Frauen anklagt, anfleht, anhimmelt und dabei wie einst Marvin Gaye alle Rollen selbst übernimmt, schwingt darin das Unbehagen über starre Rollenmuster mit.

In „Bad Religion“ steigt ein Verzweifelter auf der Suche nach einem Zuhörer zum Klang einer pastoralen Orgel in ein Taxi und beginnt zu langsamen Streichersätzen ein Lamento über eine unerwiderte Liebe. Sie sei nichts als ein one man cult, sagt er dem Fahrer. Gott könnte damit gemeint sein oder ein Mensch. Dieser „Man“ habe ihn nie dazu bringen können, ihn zu lieben. Am Ende des Gospels schraubt sich Oceans Falsett in höchste Höhen hinauf. Ob er über eine spirituelle oder emotionale Sehnsucht schmachtet, bleibt unklar.

Das Leben, so wie es auf „Channel Orange“ geschildert wird, besteht aus Schmerzen und aus Scheitern. Die Protagonisten reiben sich auf an Dekadenz oder Drogen. Hier stolpert jemand stoned durch einen Garten („Pilot Jones“), dort wird in verlassenen Häusern tief inhaliert („Crack Rock“). Während die einen in Abgründe ihres Lebens schauen, langweilen sich die anderen vor lauter Reichtum fast zu Tode, stehen auf dem Dach einer Villa des „schwarzen Beverly Hills“ ,Ladera Heights; und scherzen darüber, jetzt gleich einfach hinunterzuspringen („Super Rich Kids“).

„Channel Orange“ kann bereits jetzt als eine der besten Platten des Jahres gelten, ein großartiges Konzeptalbum in der Tradition von Stevie Wonder, Smokey Robinson oder Prince. Die sauber produzierten, nie überladenen Track-Geschichten über Einsamkeit, Verlust und Glauben, sie verschmelzen mit den verrauschten Interludes zu einer Einheit. Ein Konzeptalbum, das die momentanen Grenzen des R&B abschreitet, aber auch dessen Möglichkieten erkundet.

„Channel Orange“ von Frank Ocean ist bei Island / Universal erschienen.

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