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Hip-Hop zum Lesen: Stadt, Land, Vinyl

In seinem Debütroman will der 29-jährige US-Amerikaner Tom M. Wolf die Linearität von Leben und Literatur durchbrechen. Darum muss der Leser "scratchen", also ständig gedanklich hin und her zu springen. Wer sich darauf einlässt, entdeckt eine Mischung aus Liebes- und Entwicklungsroman.

Bevor dieses Buch beginnt, gibt es von seinem Autor, dem 29 Jahre alten Amerikaner Tom M. Wolf, eine kurze Bedienungsanleitung als Intro: „Also leg die Schallplatte auf den Plattenteller und dann schalt ein. Spür das Anziehen des Treibriemens. Schwenk den Arm über den wirbelnden Vinylstrom und senk die Nadel in die Rille.“ Tatsächlich meint Wolf damit sein eigenes Buch. Es ist typografisch einem Vinylalbum nachgebildet, mit einer A- und einer B-Seite als Großkapitel und 23 Unterkapiteln, den Songs gewissermaßen. Auf den Seiten sind Linien gezogen, die weniger Notenlinien als vielmehr die Rillen einer Platte darstellen und den Text enthalten.

„Sound“ heißt dieser Debütroman logischerweise. Der Sound, der hier erklingt, ist Hip-Hop, mit Scratchgeräuschen, Loops, Samples und Reimen. Will auch heißen: Es gibt eine fortlaufende Ich-Erzählung, sie führt in die Kapitel ein, wird dann aber immer wieder unterbrochen. Zumeist von Dialogen, die ihrerseits auf den Rillen hin- und herspringen, aber eben auch mit Erinnerungsfetzen, Gedankensplittern und Zitaten aus HipHop-Tracks angereichert sind, gern auch als Wiederholungsschleifen. Tom M. Wolf ist ein Bruder im Geist von Autoren wie Douglas Coupland („Generation X“) oder Mark Z. Danielewski („House Of Leaves“, „Only Revolutions“). Wie diese in ihren Büchern lässt er in „Sound“ alle typografischen Möglichkeiten ausschöpfen um ein Hip-Hop-Vinylalbum als Buch zu veröffentlichen, um die Linearität von Leben und Literatur zu durchbrechen.

Das Problem dieser formalen experimentellen Herangehensweise ist natürlich nicht nur, dass die Erzählung als solche schnell sekundär werden kann, sondern sie zu lesen mitunter eine Tortur darstellt. Hier sind es insbesondere die Dialoge, die oftmals gegen die Leserichtung verlaufen (für Antworten oder Erwiderungen auf einmal Gesagtes muss das Auge wieder zurückspringen, scratch, scratch, scratch).

Trotzdem gewöhnt man sich einigermaßen ein und verfolgt dann mit wachsendem Interesse, wie sich Wolfs Erzähler durch die Gegend an New Jerseys Küste, dem Jersey Shore, treiben lässt, zwischen den Städten Asbury Park, Trenton und Atlantic City, nicht selten mit dem Blick auf die Skyline von New York City. Cincy Stiles heißt der junge Mann, ein Twentysomething, der wegen der Nichtverlängerung eines Promotionsstipendiums in seine nicht näher benannte Heimatstadt zurückkehrt. Hier findet er für den Sommer einen Job als Schichtleiter einer Yachtenwerft und verliebt sich in die gleichaltrige Vera, die in einer Obdachlosenunterkunft als Sozialarbeiterin tätig ist. Auch Vera liebt ihn, liebt ihn nicht, ist da, entzieht sich, und Cincy fragt sich schon bald, ob er sich nun mehr mit ihr, mit sich oder mit seinen Freunden und der Arbeit auf der Werft beschäftigen soll.

„Sound“ ist also eine typische Mischung aus Entwicklungs- und Liebesroman. Dessen womöglich wichtigste und reizvollste Hauptfigur aber ist sein Schauplatz. Diesen hat der nicht weit von Asbury Park (Bruce-Springsteen-Land!) aufgewachsene Wolf in einem Interview als „a geographic remix of the shore“ bezeichnet. Ansonsten besteht dieser Remix aus Verfall, alter Größe und moderner Architektur, aus kaputten Motels, Industriebrachen, Urlaubshäuschen und Millionärsvillen: „Wo früher ganze Straßenzüge waren, gähnten nun Krater; um die Krater herum Maschendrahtzäune; auf den Maschendrahtzäunen hing die Stadt papierdünn in Aquarellfarbe auf Karton, die Stadt 1890, 1920, 2020; über den Aquarellen neue Gebäude aus Backstein, Stahl und glänzend grünem Glas.“

T. M. Wolf versteht sich in atmosphärischen Schilderungen, und immer wieder ist sein Cincy in den Bars, Kneipen und Vinylplattenläden der Stadt unterwegs, immer wieder rollt er mit den alten Autos seiner Freunde durch die Straßen des Jersey Shores oder flaniert auf dessen Vergnügungsmeilen herum.

Diesen Roman könne man „lesend hören“, freut sich der deutsche Verlag; doch hat man mehr den Eindruck, vor allem den Schauplatz förmlich sehen zu können. Für den ureigenen, unverwechselbaren Sound ist Wolf womöglich noch zu jung; doch muss man den ja nicht gleich hören können: Dieses Buch allein sich nur anzuschauen, macht Freude. Ein typografisches Kunstwerk ist es allemal.

T. M. Wolf: Sound. Roman. Aus dem

Amerikanischen

von Clara Drechsler und Harald Hellmann.

Berlin-Verlag, 2012. 356 Seiten, 22,99 €.

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