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Komplexbild. „Karelien und Murmansk“ auf einer Agitationstafel von Heinrich Vogeler (1926). Der in die UdSSR emigrierte gläubige Kommunist verhungerte während der Kriegsevakuierung 1942 in Kasachstan. Foto: bpk/SMB/Klaus Göken/VG Bild-Kunst, Bonn 2012

© bpk / Nationalgalerie, SMB / Kla

Historienschau: Freunde, Feinde, entfernte Verwandte

Das Neue Museum Berlin besichtigt ein Jahrtausend Geschichte und Kultur zwischen Russen und Deutschen.

Wie sehr doch der umgebende Raum eine Ausstellung prägen kann! Das kulturhistorische Panorama „Russen und Deutsche. 1000 Jahre Kunst, Geschichte und Kultur“, das bei seiner Erstpräsentation im Moskauer Historischen Museum eher Rat- oder Orientierungslosigkeit hinterließ (Tsp. vom 21. Juli), hat bei seiner zweiten, Berliner Station im Neuen Museum an Stringenz gewonnen. Ein roter Faden wird erkennbar. Nicht um die Geschichte von Staaten geht es, schon gar nicht um „das“ deutsche versus „das“ russische Reich, sondern um die Begegnung von Menschen deutscher und russischer Zunge, um den Austausch von Gütern, das Prunken mit Kunstwerken, die Vermittlung von Wissen, und, auch dies, den tödlichen Kampf der Waffen.

Die Ausstellung, die als deutsch-russisches Gemeinschaftsprojekt in den zurückliegenden Jahren erarbeitet worden ist und ihrem Material nach gleichermaßen in beiden Hauptstädten gezeigt wird, nur eben nicht in gleicher Präsentation, diese Ausstellung sucht einen anderen Zugang zur deutsch-russischen Vergangenheit als den über die politische Geschichte. Hermann Parzinger, der Präsident der auf deutscher Seite federführenden Stiftung Preußischer Kulturbesitz, machte das in seiner Eröffnungsrede mit einem treffenden Bild deutlich. Er erinnerte sich, dass im Hause seiner Großeltern das Schwarz-Weiß-Foto eines jungen Mannes „in Militäruniform“ an der Wand hing. „In vielen deutschen Familien und noch mehr russischen“, fuhr Parzinger fort, „weiß man, was das bedeutet.“ Punkt. Keine Erklärung, was es denn nun bedeutet; weil es jedem Zuhörer der vielhundertköpfigen Festversammlung bewusst war. Zu tief hat die fürchterliche Geschichte des 20. Jahrhunderts das Bild geformt und eben auch verformt, das sich Deutsche und Russen voneinander machen. Und, so Parzinger, „aus diesem Bild wollen wir aussteigen“.

Das „Aussteigen“ erlaubt ein „Einsteigen“, nämlich in eine lange und erstaunlich stetige Vergangenheit wechselseitiger Beziehungen, in – wenn man so will – Geschichten im Plural statt der einen, einzigen Geschichte, die seit 1945 weniger erzählt als verkündet wird. Dass diese Geschichten tatsächlich die plakativen eintausend Jahre des Ausstellungstitels ausfüllen, ist bemerkenswert. In einen illuminierten Psalter aus ottonischer Zeit, um 980 auf der Insel Reichenau ausgemalt, wurde zweihundert Jahre später die Darstellung der Heirat des Kiewer Großfürstensohnes Jaropolk mit Kunigunde von Weimar eingefügt.

Dynastische Beziehungen, so die Botschaft des Psalters, begleiten das deutsch-russische Verhältnis, lange bevor es zu Beziehungen zwischen Staaten kam, und sie begleiten es bis ins 20. Jahrhundert hinein. Da schickt dann der preußisch-deutsche Kaiser Wilhelm II. an seinen russischen Vetter, den Zaren Nikolaus II., noch am 31. Juli 1914, ein Telegramm mit den beinahe flehenden Worten: „Unserer langbewährten Freundschaft muss es mit Gottes Hilfe gelingen, Blutvergießen zu verhindern. Dringend erwarte ich voll Vertrauen Deine Antwort.“ Die Antwort war der tags darauf begonnene, tatsächlich eher im Wortsinne ausbrechende Erste Weltkrieg. Da waren die Staaten längst machtvoller geworden als die persönlichen Beziehungen, die die Ausstellung hervorhebt.

Pelze aus dem Oste als Gastgeschenk

Zu staatlicher Fühlungnahme kam es erstmals überhaupt, nachdem bereits die Hälfte der tausend Jahre vorüber war. 1576 besucht eine Gesandtschaft Zar Iwans des Schrecklichen den deutschrömischen Kaiser Maximilian II. beim Reichstag in Regensburg, eine „Legation“ des „Großfürsten aus Moscaw an die Römische Kayserliche Mayestat“, wie eine in Prag gedruckte kolorierte Holzschnittfolge erläutert.

Als Gastgeschenk bringen die Gesandten Pelze, das bevorzugte Exportgut des Ostens, das bereits die „Rigafahrer“ aus Stralsund um 1360/70 auf dem hölzernen Gestühl von St. Nikolai verewigt hatten. Dort wird die Jagd auf Pelztiere dargestellt, wie sie Händler der ostseeüberspannenden Hanse aus Nowgorod, dem russischen Hauptumschlagplatz bis ins 15. Jahrhundert hinein, erzählt bekamen. Männer mit geflochtenen Bärten treiben Eichhörnchen im begehrten Winterfell von den Bäumen, bis schließlich in der letzten Szene ein Stralsunder Kaufmann die Ware vor den Toren der Stadt in Empfang nimmt. Es könnte Nowgorod sein, wo sich ein Bischof des 14. Jahrhunderts einen Stadtpalast von „deutschen Meistern von jenseits des Meeres“ erbauen ließ, in Backsteingotik genau wie in den hiesigen Hansestädten.

Solche Geschichten sind es, die die Ausstellung in ihren Objekten erzählt. Die durchaus strikte Chronologie, in der die Ausstellung im obersten Stockwerk des Neuen Museums als Rundgang angelegt ist, vermeidet den Eindruck des Zufälligen, den die Moskauer Präsentation mit ihren zeitüberspringenden thematischen Blöcken hinterließ. Nein, in der Berliner Erzählung wird das Gewebe der Beziehungen, gestiftet vornehmlich durch den Handel, immer dichter, folgen auf Kaufleute die quer durch Europa heiratenden Fürsten und mit ihnen die Forscher und Denker, die sie ins Land rufen. Allerdings ist der Weg jenseits der Warenströme doch eher eine Einbahnstraße. Peter der Große lässt sich von Leibniz bei der Gründung der russischen Akademie beraten, Naturforscher erkunden Sibirien, und Alexander von Humboldt vermutet im Ural Edelsteinvorkommen – was denn auch zutrifft, woraufhin ihm ein Diamant aus dem allerersten Fund von 1829 verehrt wird.

Auch die dynastischen Beziehungen entwickeln sich eher in diese eine Richtung, dafür steht beispielhaft jene Prinzessin aus dem Kleinstaat Anhalt-Zerbst, die als Katharina II. „die Große“ wird, die das Russische Reich zur Großmacht formt, die es seither durch alle Zeitläufte hinweg geblieben ist. Ihr lebensgroßes Portrait von Fjodor Rokotow, um 1775 gemalt, zeigt eine Herrscherin mit allen Attributen kaiserlicher Würde. Ihr Sohn, Zar Paul I., hatte eine badische Prinzessin zur Frau, der Enkel, der spätere Alexander I., heiratete Luise von Hessen-Darmstadt. Es war die glücklichste Epoche deutsch-russischer Begegnungen auf staatlicher Ebene.

So ließe sich von beinahe jedem der rund 400, bisweilen mehrteiligen Objekte eine Geschichte erzählen, und dabei steht chronologisch das späte 19. Jahrhundert noch bevor, das eine „Explosion“ der Beziehungen erlebt, wie es Matthias Wemhoff nennt, der maßgeblich mitverantwortliche Direktor des Museums für Vor- und Frühgeschichte, in dessen Räumen diese Wechselausstellung stattfindet. Gewiss kann und wird man endlos diskutieren, ob die kursorische Abhandlung der ersten vier Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, die hier mit ein paar „Komplexbildern“ des gläubigen Kommunisten Heinrich Vogeler oder Architekturskizzen Erich Mendelsohns für eine Textilfabrik in Leningrad illustriert werden, nicht allzu verknappt daherkommt. Und natürlich ist es ein Manko, die von Stalin und NS-Außenminister Ribbentrop unterzeichnete Landkarte zum deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag vom 28. September 1939 derart unauffällig an den Rand zu hängen. Es ist dies ein Schlüsseldokument des 20. Jahrhunderts, das Dokument des Machtwahns zweier Diktatoren, mit dem der bereits begonnene Zweite Weltkrieg zum deutsch-russischen Vernichtungskrieg der Jahre 1941 bis 1945 hingeführt wird.

Was folgt, ist eine multimediale, vielstimmige Erzählung zu Nachkriegszeit, Kriegsheimkehrern, Ost-West-Blockteilung, Russen in Berlin heute und ganz am Schluss dem Problem von Kunstzerstörung und Beutekunst, illustriert mit einem Stück aus der Werkstatt, die ab 2003 das verschollene Bernsteinzimmer in Zarskoje Selo rekonstruiert hat. Hermann Parzinger nannte die Beutekunst „die letzte unaufgearbeitete Hypothek dieser unseligen Geschichte“, nicht ohne hinzuzusetzen, dass es die deutsche Seite war, „die mit den Zerstörungen begonnen hat“. Das lässt sich, noch auf Generationen hinaus, nun einmal nicht ausblenden.

Es ist aber das Verdienst, es ist die Rechtfertigung dieser – auch dank der Ko-Finanzierung durch den Energiekonzern Eon – aufwendigen Ausstellung, dass sie den Blick von eben dieser Fixierung auf den Krieg und seine Folgen befreit und stattdessen hinlenkt auf die Begegnungen und Beziehungen, die es seit tausend Jahren gegeben hat und immer wieder aufs Neue gibt. Gewissermaßen auf den Sieg des Persönlichen über das Politische.

Neues Museum, Museumsinsel Berlin, bis 13. Januar 2013. Mo–Mi und So 10–18, Do–Sa 10–20 Uhr. Eintritt 14/ermäßigt 7 €. Katalog sowie Essayband erscheinen im Michael Imhof Verlag, 24,95/29,95 €, zusammen 49,95 €.

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