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Kultur: Historiker und Publizisten diskutieren in Berlin über die Instrumentalisierung der Geschichte

Das Medieninteresse an der Geschichte des Nationalsozialismus hat in den letzten Jahren eine neuerliche Steigerung erfahren. Der Streit um Daniel Goldhagens These von "Hitlers willigen Vollstreckern", die Kontroversen um das Holocaust-Mahnmal, Martin Walsers Paulskirchen-Rede und die Wehrmachtsausstellung haben gezeigt, dass kaum ein Thema die deutsche Öffentlichkeit so nachhaltig erregt wie die Erinnerung an das nationalsozialistische Menschheitsverbrechen.

Das Medieninteresse an der Geschichte des Nationalsozialismus hat in den letzten Jahren eine neuerliche Steigerung erfahren. Der Streit um Daniel Goldhagens These von "Hitlers willigen Vollstreckern", die Kontroversen um das Holocaust-Mahnmal, Martin Walsers Paulskirchen-Rede und die Wehrmachtsausstellung haben gezeigt, dass kaum ein Thema die deutsche Öffentlichkeit so nachhaltig erregt wie die Erinnerung an das nationalsozialistische Menschheitsverbrechen. Und das, obwohl vermutlich kein anderer Abschnitt der deutschen Geschichte so umfassend erforscht ist wie das Dritte Reich und die Verdammung seiner Untaten längst zur Staatsräson der Bundesrepublik geworden ist.

Bei einer Diskussion im Haus der Konrad-Adenauer-Stiftung im Berliner Tiergarten zum Thema "Die mediale Instrumentalisierung von Geschichte" rechnete der Mainzer Professor Jürgen Wilke vor, dass es allein im Jahr 1995 im deutschen Fernsehen zu NS-Themen nicht weniger als 450 Sendungen gegeben habe. Ein Beleg für die Behauptung Martin Walsers, wir würden mit einer medialen "Auschwitz-Keule" traktiert? Anlass jedenfalls für eine Sekundärdebatte darüber, ob möglicherweise des Guten zu viel getan wird - und für den mancherorts genährten Verdacht, die unablässige Aufmerksamkeit auf die dunkle deutsche Vergangenheit könnte künstlich erzeugt und von einschlägigen ideologischen Motiven gesteuert werden. Jedenfalls musste sich Christoph Stölzl ausgerechnet an dem Abend, bevor er seinen spektakulären Wechsel vom Deutschen Historischen Museum ins journalistische Gewerbe vollzog - seit Mittwoch fungiert der Historiker als stellvertretender Chefredakteur der "Welt" -, in der Adenauer-Stiftung eine saftige Medienschelte anhören.

Wilke und insbesondere der Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, Horst Möller, beschuldigten pauschal "die Medien", respektive "die Journalisten", die Aufarbeitung der Verbrechen des Dritten Reichs oberflächlich und emotionsgeladen statt wissenschaftlich fundiert und ausgewogen zu betreiben. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Norbert Lammert mokierte sich über die Hingabe, mit der sich die deutschen Eliten der Schuldaufarbeitung widmen und warnte vor Überdruss und Abwehrreaktionen bei breiteren Volksschichten.

Gegen diese Phalanx konservativer Medienverächter konnte oder wollte Roderich Reifenrath, der als Chefredakteur der "Frankfurter Rundschau" den linksmedialen Widerpart zu geben hatte, wenig ausrichten. Eher matt verteidigte er die Errungenschaften der 68er in Sachen Erinnerungsarbeit und wiederholte die Legende, derzufolge die vorhergehende bundesrepublikanische Nachkriegsgeneration sich der Aufarbeitung des Nationalsozialismus entzogen habe - ein Klischee, das seine Kontrahenten ihm zu Recht nicht durchgehen liessen. So blieb es ausgerechnet Stölzl, dem angehenden "Überläufer" in die Welt der Journaille vorbehalten, der schablonenhaften Debatte doch noch einen substanziellen analytischen Horizont zu verleihen. In jeder Phase der bundesdeutschen Geschichte habe es eine mehr oder weniger intensive wissenschaftliche und moralische Auseinandersetzung der Deutschen mit dem "Höllensturz" der NS-Zeit gegeben. Freilich hat jede Generation den Blickwinkel gemäss ihrer eigenen aktuellen Lebensrealität spezifisch ausgerichtet. In der Debatte über die Vergangenheit spiegelten sich immer die jeweiligen Selbstdefinitions- und -verständigungsversuche der Nation. Dass das Thema auch heute nicht an Brisanz verliert, hat laut Stölzl schlicht mit der Dimension des Entsetzens zu tun, die keine endgültige Lesart zulässt. Im vereinigten Deutschland stellt sich derzeit verstärkt die Frage nach einer Symbolisierung seines Verhältnisses zur Vergangenheit, die seiner neuen Rolle entspricht. Das erklärt den hohen emotionalen Gehalt des Streits um Denkmäler, Geschichtswerke und Ausstellungen. Und das schlägt sich nicht zuletzt im Sensationswert nieder, der dem Thema von den Medien beigemessen wird.

Stölzl skizzierte damit einige Aporien deutscher Vergangenheitsbewältigungsversuche. Mit dem Vorwurf, die notwendige Erinnerung werde für aktuelle politische Zwecke instrumentalisiert, liegt man zwar nie ganz falsch. In der Tat nutzte etwa die Linke das moralische Pathos des Antifaschismus zur Legitimation für ihre Verklärung "antiimperialistischer" Bewegungen in der Dritten Welt, und Günter Grass versuchte, seiner Option gegen die Wiedervereinigung durch den Verweis auf Auschwitz moralisches Gewicht zu verleihen. Auch blocken viele linke Intellektuelle mit dem Argument der Singularität von Auschwitz die Beschäftigung mit dem Ausmaß der Verbrechen des Kommunismus ab. Aber auch die Kritiker solcher "Instrumentalisierungen" nutzen ihrerseits das Thema regelmässig für den politischen Meinungskampf. Im Instrumentalisierungs-Vorwurf selbst schwingt meist die Unterstellung mit, die Beschwörung des nationalsozialistischen Traumas fördere per se die Stigmatisierung und Unterdrückung bestimmter konservativer Positionen wie dem Bekenntnis zu einer ethnisch definierten Nation. Mit dieser vorauseilenden Verteidigungsstellung verleihen Konservative ihrer Position gerne die Aura des trotzigen Tabubruchs. Doch eine falsche Kritik an Falschem setzt dieses noch lange nicht ins Recht.

Das aber unterscheidet ja eben den medial vervielfältigten Meinungsstreit vom akademischen Diskurs: dass sich in ihm subjektive Wertungen, tagespolitische Interessen und emotionale Befindlichkeiten unentwirrbar mit der Betrachtung objektiver Fakten mischen. Die Forderung konservativer Historiker, die Debatte solle durch die Rückkehr zu "emotionsfreier" wissenschaftlicher Objektivität gleichsam normalisiert werden, ähnelt dabei auf paradoxe Weise dem Gebot der Gralshüter aus der Frankfurter Schule, der Name Auschwitz müsse vor jeder Entweihung durch Vergleiche mit aktuellen politischen Vorgängen geschützt werden. Beiden Spielarten des Purismus ist die Angst anzumerken, das wild wuchernde demokratische Durcheinanderreden könnte die jeweils bevorzugte weltanschauliche Diskursanordnung ins Rutschen bringen.

Dabei ist doch gerade die massenmediale Verbreitung der Vielfalt der Stimmen - bei allen partiellen Verkürzungen und Schieflagen - der einzige Garant dafür, dass ein einigermassen vollständiges Bild über das Verhältnis der Nation (oder zumindest ihrer Eliten) zu ihrer Vergangenheit entstehen kann. Gerade die jüngste Entwicklung der Debatte über die Wehrmachtsausstellung zeigt doch, dass sich auch unliebsame, triftige Kritik aus diesem Prozess nicht dauerhaft ausgrenzen lässt. Ein Entkommen aus der Endlosschleife medialer Vermittlung ist aber unmöglich. Ein Schulbeispiel dafür ist Martin Walser, der sich öffentlich darüber beschwerte, es sei zu viel von Auschwitz die Rede und damit eine neue Welle des Redens - beziehungsweise des Redens über das Reden über Auschwitz - auslöste. Und ein jüngstes Beispiel: Eine große Tageszeitung veröffentlichte kürzlich das Ergebnis einer Umfrage, laut der die üppige Medienberichterstattung über die Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter den Antisemitismus in der deutschen Bevölkerung gesteigert habe. Hat aber die Zeitung mit ihrer groß aufgemachten Meldung diesen Zusammenhang nicht überhaupt erst suggeriert?

Richard Herzinger

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