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Historische Feuilletons von Annemarie Weber: Die Frau von dreißig Jahren und andere Texte

Annemarie Weber wird gerade als Schriftstellerin wiederentdeckt - mit ihrem Roman "Westend" über das Kriegsende in Berlin. Fast vierzig Jahre lang schrieb sie auch für den Tagesspiegel. Wir haben im Archiv drei Fundstücke aufgetrieben.

Im allgemeinen hat die Frau von dreißig Jahren heute für niemanden mehr etwas Problematisches, am allerwenigsten für sich selbst. Sie fühlt sich nicht anders als mit fünfundzwanzig oder als sie sich mit fünfunddreißig fühlen wird. In unseren Tagen gilt das aber eigentümlicherweise für die unverheiratete Frau mehr als für die verheiratete. Und damit wird eingeräumt, dass es da also, nicht im allgemeinen, aber im besonderen doch eine Problematik gibt, nämlich für die Frauen, die gerade jetzt dreißig sind, die also bei Ausbruch des Krieges Backfische waren.

Die Jahre, die im Leben der Frau die schönsten sein sollen, sind für sie Entbehrungen und Strapazen gewesen. Die alleinstehende, berufstätige Frau hat es dabei wohl etwas einfacher gehabt, denn durch diese schweren Jahre kam man leichter, wenn man nicht die täglichen Sorge hätte, wie man eine ganze Familie sattmachen und kleiden sollte. Sie wird den „Verlust“ dieser Jahre daher nicht so stark empfinden. Aber da sind die verheirateten Frauen, die ihr erstes Kind bekamen, als es nicht genug und nicht gut genug zu essen gab. Die Kinder gediehen trotzdem, sie gediehen, weil die Mütter für sie entbehrten. Ihr zweites Kind bekamen sie unter nicht viel besseren Umständen. Während sie es erwarteten, hatten sie manchmal Zwangsvorstellungen von riesenhaften Fleischportionen und anderen unerreichbaren Genüssen. In der Klinik bekamen sie Brot mit Milchpulveraufstrich und ein Mittagessen, das nicht sättigte. Man sah noch lange danach blasse, abgemagerte Mütter, in denen die gesunden Backfische von einst nicht wiederzuerkennen waren.

Als die Schaufenster wieder „wie im Frieden“ aussahen, konnten viele dieser Frauen noch lange nicht an einen normalen Lebensstandard denken, denn nun galt es, unter größten Anstrengungen, die inzwischen mit viel Mühlen erlangte Wohnung zu halten. Erst allmählich reicht es zu diesem und jenen, und man könnte glücklich sein: die junge Frau sieht nach vielen Jahren wieder Modeblätter und Reiseprospekte an, sie liest von Bällen und von Seebädern und beginnt zu träumen. Aber sie wird das Gefühl nicht los, dass es da vieles gibt, was für sie unerreichbar bleibt, weil inzwischen so fest an die Familie gebunden ist, dass ihr Leben als Einzelwesen gar nicht mehr in ihrer Hand liegt.

Und sie ist nun dreißig Jahre alt. Sie kennt keine großen Festlichkeiten, sie ist seit mehr als zehn Jahren nicht an der See, nicht im Gebirge gewesen. Natürlich sagt sei nichts, schließlich verloren auch früher die Frauen kein Wort über ihr Dasein und ihre Arbeit, und zwei Kinder sind doch nicht zu viel.  Aber sie träumt manchmal, und manchmal ist sie ein wenig bitter. Von dem Bitteren merkt ihr Mann zuweilen etwas, und er versteht es nicht ganz: er ist glücklich, dass alles so schön beisammen ist, und dass sie ihr Leben halbwegs ordentlich fristen können. Er meint, sie müsse doch auch glücklich sein, und das ist sie schließlich auch, denn sie ist ja vernünftig. Aber nicht nur „vernünftig“ sollte sie sein, sondern sie sollte sehen, dass ihre Aufgabe sich jetzt eben nicht mehr darin erschöpft, den Haushalt auf dem laufenden zu halten, denn das ist jetzt keine solche Kunst mehr, wie es früher war. Wenn sie ihr individuelles Dasein retten will, muss sie selbst das meiste dazu tun: nämlich ihrem Mann bewusst machen, dass sie eines hat, dass sie nicht im Familienalltag untergehen und auf alles verzichten muss, was früher einmal zur Lebensfreude dazu gehörte. Man muss nicht verzichten, wenn man nicht will: die verheiratete Frau von dreißig Jahren muss es ebenso wenig wie die unverheiratete. Und ihr Mann wird es ihr, mag es ihm zuerst auch an Verständnis mangeln, danken, wenn sie zwar anspruchsvoller, aber auch innerlich reicher, vielseitiger und lebendiger wird.

(erschienen im Tagesspiegel am 4. Mai 1952)

Sonnenaufgang am Zoo

Schwarze Taxireihen warten in der Dunkelheit, es ist zwei Uhr, die Chauffeure sitzen zusammengesunken, ohne Hoffnung, jetzt noch Fahrgäste zu bekommen. Budapester-, Hardenberg-, Joachimstaler Straße liegen leblos im matten Laternenlicht, unter der Bahnbrücke ist es leer, der Eingang zur U-Bahn ist geschlossen.

In der Bahnhofshalle stehen in weiten Abständen voneinander Menschen, die den schlechten Ruf des Treffpunkts begründen. Sie blicken abwartend in die matten Lichtbahnen über der weiten steinernen Fläche. Die Pullover, Strümpfe, Parfums, Bücher in den Vitrinen und Schaufenstern der Bahnhofshandlungen liegen da, als hätten sie mit diesen Stunden der tiefsten Nacht nichts zu tun.

Zwei Polizisten haben zwei dreiste, kurzbehoste Jungen festgenommen und führen sie ab, los, und männlicher und rechtschaffener kann niemand neben den maulenden kleinen Abenteuern wirken als diese beiden Hüter der Ordnung. Die Halle liegt wieder ruhig da, die Herumsteher waren ein paar Schritt gegangen nun bleibe sie wieder stehen. Restaurants und Wartesaal sind geschlossen, eine Frau wischt den Fußboden, der Scheuerlappen klatscht, die Stühle stehen auf den Tischen, gerade ausgerichtet. Was sich den Tag über bis in die Nacht hinein abgespielt hat, ist ausgelöscht.

Im Hühner- und Würstchen-Imbiss in der Joachimstaler Straße wird gleichfalls nass gewischt. Ein Mann steht hinter der Theke und setzt eine Flasche Bier an den Mund. Der Hühnerbratspieß ist leer und ausgewaschen. Bei Aschinger starrt ein Wald von Stuhlbeinen, eine Art Stuhlbein-Schonung, davor geht gebückt die Scheuerfrau. Sei scheuert, sie schrubbt, und sie ist ein schönes, junges Mädchen, mit schwarzem Haar und roten Lippen, man würde sei eher beim Film vermuten als nachts mit dem Scheuerlappen bei Aschinger, eine Gestalt aus dem Märchen. Cremetorten glitzern im Laternenlicht.

Der Kurfürstendamm lässt schon eine leichte, blau heraufziehende Dämmerung ahnen. In dem einfachen Bierlokal, das die ganze Nacht geöffnet ist, sind alle Tische besetzt. Ein Mann, klein und spitz, schläft; der Mann und die Frau in seiner Begleitung sehen sich betroffen an. „Er schläft bloß, weil er nicht bezahlen will!“ schließt die Frau scharf. Der Kellner nimmt dem Mann den Schal weg, er donnert ihn an, er weckt ihn, aber der Kleine zahlt nicht, er schließt die Augen wieder. Später zieht der Kellner ihn vom Stuhl hoch, drückt ihm den Hut auf den Kopf, drängt ihn zur Tür, tritt ihn hinaus, ganz wie im Film.

Durch die Tür scheint blaugrau der Morgen. Zwei Frauen trinken Kaffee und zeigen einander Familienphotos. „Das ist Grete 1938 in Posen.“ Zwei betrunkene Jünglinge kommen zur einen Tür herein, blicken mit glänzenden Augen um sich, gehen zur anderen Tür wieder hinaus.

Draußen weht zartes, graues Licht, manche Fensterscheiben glänzen schon weiß. Die Häuserfronten überziehen sich langsam mit einem schwachen Rosa.

(erschienen im Tagesspiegel am 25. Juli 1961)

Nachts neben einem Filmteam: Feierabend mit Ulrich Schamoni

Wie spricht man eigentlich, so überlegte ich oft in diesem Winter, ein Filmteam an, das nachts nach getaner Arbeit noch in die Stammpinte einbricht. Man ist mit den Leuten befreundet, weiß aber nicht recht, was sie da jetzt gerade drehen. Man möchte lachen und scherzen mit ihnen, ahnt aber nicht, ob sie nicht von schweren Sorgen bedrückt sind. Man würde sogar wagen, etwas Filmfachliches zu plaudern, riskiert aber, dass sie einen nicht für voll nehmen.

Schon ein einfaches „Hallo, Uli!“ ging mir gleich daneben. „Verdammt!“ war die Antwort des für seine Liebenswürdigkeit bekannten Regisseurs, den er hatte meine dargebotene Hand ergriffen und dabei den Flipper losgelassen; schlaff rollte die Kugel durchs Ziel.

Ein Regisseur von Geblüt, immerhin, denkt auch beim Flippern an seinen Film, und so bat mich Schamoni, über die linke Schulter weg, doch mal über einen Titel nachzudenken. So aus dem Stand, ohne Story, erschien mir das nicht einfach. „Die Sinjen und kein Ende“ schlug ich, nicht unhämisch, vor, denn die, das wusste ich, ist auch wieder dabei. Mir indessen gibt Schamoni keine Rolle mehr, obschon ich in „es“ mit der Viertelsekunde, die ich im Bild war, eine Leistung erbrachte, die vielen in Erinnerung geblieben ist.

Über die Schulter weg erklärte Schamoni mir die Geschichte: Ein junger Mann und eine junge Frau wollen nachholen, was sie in der allerersten Jugend gern getan hätte, aus Schüchternheit aber nicht getan habe. Was getan? Na, „es“. Da wären wir wieder bei „es“. Und genauso genommen ginge s ja um dasselbe.

„Es-moll“ – damit kam Schamoni eines Nachts am Flipper an. Ich darf mich rühmen, zu denen zu gehören, die ihm dies „Es-moll“ ausgeredet haben. Wir haben uns dann sogar an einen Tisch gesetzt und Skat gespielt, um die Titelfindung konzentrierter zu betreiben.

„Also, hör doch“, erklärte Schamoni die Geschichte noch einmal, „da sind zwei, die wollen das Glück von damals haben. Die Frau ist verheiratet, ihr Mann bin, nebenbei, ich; sie hat ein Kind, es ist, nebenbei, mein Kind. Der Mann ist ein nicht unnetter Erfolgsspießer. Der Jugendfreund ist ein bisschen so geblieben, wie er damals war.“

Bei so konzentriertem Nachdenken kamen wir auf „Zu spät?“ und „Das Glück von vorgestern“, auf „Endlich das Glück?“ und „Nachgeholte Liebe“, welche Titel alle dem Morgengrauen nicht recht standhielten. Gern hätten wir „Ein Hauch Glückseligkeit“ genommen, aber den Einfall hatte ja schon einer gehabt, und überhaupt ist man bei solchem Grübeln erbittert, wie viele gute Filmtitel schon verbraucht sind. In er ersten Nachkriegszeit, als alles knapp war, auch Filmtitel wohl, konnte man einen Film „Film ohne Titel“ nennen. Auch der ist somit verbraucht.

Als reife Leistung brachte das Team eines Nachts „Am Ende des Regenbogens“ mit. Wenn ich mich recht erinnere, spielte das poetisch und bedeutungsvoll auf einen im Film vorkommenden Regenbogen an, und wir waren alle froh, dass das Nachdenken nun ein Ende hatte.

Aber der Verleih hat denn doch den endgültigen Einfall gehabt: „Wir – zwei“ heißt der Film jetzt, und das Originelle an diesem Titel ist, dass man darüber grübelt, warum der Film so heißt. Auf jeden Fall etwas Schlichtes, hat sich der Verleih wohl gesagt. Und man ist dort auch enttäuscht, dass „es“ überhaupt nicht gezeigt wird. Dabei ist, das weiß man doch, die Verzichtwelle groß im Kommen. Und bis Mai soll der fertige Film warten, ehe er in die Kinos kommt. Liegt da irgendwo ein Schmollen vor?

(erschienen im Tagesspiegel am 29. März 1970)

Annemarie Weber

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