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Der gestiefelte Kater danach. Die Erfindung der Fotografie eröffnet neue Möglichkeiten, die im Jahr 1862 der Münchener Maler Heinrich Lang mit Zeitgenossen bei einer Maskerade nutzt.

© Joseph Albert, Sammlung Siegert / courtesy Schirmer/Mosel

Historische Fotografie: Die wiedergefundene Zeit

Erfüllung eines Möglichkeitsraums: Ein Bildband und eine Ausstellung in München zeigen Fotografien aus dem Deutschland des 19. Jahrhunderts. Dabei fasziniert neben den detailgenauen Aufnahmen untergegangener Welten vor allem, wie schnell das neue Medium eigene Formen hervorbringt.

Selbst die Kinder des 20. und 21. Jahrhunderts, gesegnet mit Internet, Atombomben, Mondraketen und Marssonden können über die Innovationen des 19. Jahrhunderts manchmal nur staunen. Seit Urhöhlenzeiten, mehr als zehntausend Jahre lang, existierten vom Bild der Welt nur handgefertigte Nachbildungen. Plötzlich aber öffnet sich da die Camera obscura, werden Dinge und Lebewesen im Widerspiel von Licht und Schatten, Linsen und Platten in ihrer Realität festgehalten. Für buchstäblich einen Augenblick aus dem Fluss von Zeit und Raum gerissen und gebannt.

Die Geburtsstunde der Fotografie ist eine Explosion. Eine ungeheure Beschleunigung nimmt ihren Lauf. Denn das neue Bild der alten Welt verbreitet sich, bedenkt man die damalige Frühzeit von Dampfschifffahrt und Eisenbahnen, rasend schnell. Als Louis Daguerre am 7. Januar 1839 das erste Verfahren zur mechanischen Lichtbildnerei, die Daguerreotypie in Paris vorstellt, gibt es schon wenige Tage später Berichte auch in deutschen Zeitungen. Und als Daguerre sein Verfahren im August desselben Jahres in einem Buch beschreibt, erscheint die deutsche Übersetzung fast zeitgleich.

Im Spätsommer 1839 liefert Daguerre bereits die ersten Kameras auf Bestellung des Kunsthändlers und Unternehmers Louis F. Sachse nach Berlin. Bis November soll Sachse schon mehr als 600 Daguerreotypien angefertigt haben, doch in Berlin baut Theodor Dörffel als erster Fotograf am Ort Daguerres Kamera sofort nach und stellt seine Bilder bereits am 16. September 1839 in der Kunsthandlung von George Gropius aus.

Bis hin zu einer wohl leicht meschuggenen adligen Dame, die gleichfalls 1839 in einem Brief an den preußischen König sich als die wahre Erfinderin der Fotografie andient – es sind viele solcher historischer Details, die wir dem wunderbaren Band „Zwischen Biedermeier und Gründerzeit. Deutschland in frühen Photographien 1840 – 1890“ entnehmen. Er bildet auch den Katalog zu der noch bis 20. Mai im Münchner Stadtmuseum laufenden gleichnamigen Ausstellung und wird herausgegeben vom Leiter der dortigen Fotosammlung Ulrich Pohlmann und dem Sammler Dietmar Siegert.

Das Münchner Stadtmuseum besitzt ohnehin eine der besten deutschen Fotokollektionen. Aber ein Prunkstück ist nun die Sammlung von Siegert. Ihn kannten bisher nur Eingeweihte. Als der als deutscher Mitarbeiter von Luchino Visconti Anfang der 1970er Jahre Drehorte und Sets für dessen „Ludwig II.“-Film (mit dem soeben noch mal zu traurigem TV-Ruhm gelangten Helmut Berger) vorbereitete, stieß er erstmals auf frühe Aufnahmen und wurde von der Sammlerleidenschaft gepackt. Das Buch präsentiert jetzt eine Auswahl von 350 Motiven von 75 Fotografen des 19. Jahrhunderts, mehr Stücke, als die Ausstellung selber zeigt. Siegerts Foto-Kollektion umfasst insgesamt über 7000 Werke, und sie soll demnächst wohl zum Kauf angeboten werden. Der Schätzpreis liegt bei gut zwei Millionen Euro.

Die Fotografie war ein Erfolgsmedium von Anfang an. Alles begann mit einem noch schwach belichteten Blick aus dem Fenster in den Innenhof des Hauses des Franzosen Joseph Nicéphore Niépce in Le Gras im Jahr 1826. Diese sogenannte Heliografie auf einer Zinnplatte, die wirklich erste Fotografie der Welt, ist übrigens als unbezahlbare Kostbarkeit der Gernsheim-Collection aus Austin/Texas noch bis zum 24. Februar im Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museum zu besichtigen. Niépce und Daguerre entwickelten die Lichtbildtechnik dann weiter, und parallel erfand der Brite William Fox Talbot ein Negativ-Positiv-Verfahren für weitere Reproduktionen, das später zur Grundlage des Mediums wurde, bis zum Anbruch der Digitalfotografie.

Ein Boom auch in Deutschland

Es war ein weltweiter Boom. Indische Maharadschas, chinesische Bonzen, europäische Monarchen, selbstdarstellungsbewusste Bürger und Künstler (auch die Maler), Amerikas Magnaten, Politiker, Pioniere, Pressehäuser und frühe Reporter waren Foto-Fans. Auch Ludwig II., zu dessen Zeit der Münchner Joseph Albert bereits, seit 1858, den Titel „Königlich Bayerischer Hofphotograph“ trug. Albert und sein Konkurrent Franz Hanfstaengl waren vor allem gefragte Porträtisten. Buch und Ausstellung präsentieren deren Bilder vom jungen Märchenkönig, aber auch köstliche, im Atelier wegen der langen Belichtungszeiten eigens gestellte Szenen von Münchner Künstlerbällen und Faschingsfesten, in denen die Damen und Herren der Gesellschaft posierten.

Von märchenhaftem Charme sind da Vermummungen etwa des Malers Heinrich Lang als „Gestiefelter Kater“, der Architekt Adolf Seder als „König Drosselbart“ mit Allongeperücke und eingerahmt von Tüll, Pappsäule und Gummibaum. Geradezu fantastisch wirken die Tiermasken, beispielsweise 1862 ein pfeifeschmauchender Igel und der geckige Hase, vor deren berühmtem Wettlauf .

Man denkt hier sofort an Lewis Carroll, der im selben Jahr seine „Alice im Wunderland“ zu schreiben begann und mit ebenso romantischen wie auch pädophil inspirierten Kleinmädchenbildern als Fotograf experimentierte. Überhaupt gelten Großbritannien und Frankreich wie selbstverständlich als Heimatländer des neuen Mediums – umso erhellender liest und sieht man sich jetzt durch das „Deutschland in frühen Photographien“. So begegnet man etwa Georg Koppmanns Bildern von den noch mittelalterlich geprägten Hafenvierteln Hamburgs um 1883/84: kurz bevor sie dem neuen, 1888 als „Tor zur Welt“ eröffneten Freihafen und seiner Speicherstadt weichen mussten. Eine historische Bestandsaufnahme einer dem Untergang geweihten Welt, schon damals im offiziellen Auftrag der Hansestadt.

Von Frankfurt bis Berlin und Dresden, von Nürnberg bis Köln und in frühen Rhein-Reisebildern sehen wir dieses in prosperierenden Gründerzeiten und später in Hitlers Weltkrieg untergegangene Deutschland mit dem pompejanischen Blick. Fotografie, die immer auch Menschen so bannt, wie sie danach nie ganz wieder sein werden, sie bedeutet zugleich ein Memento mori. Ein neues letztes Bild zu Lebzeiten.

Es ist dies eine spannende, tolle Elegie. Auch mit einem Kapitel über die in Deutschland, anders als etwa im amerikanischen Bürgerkrieg oder im Krimkrieg (1853–56), zunächst wenig präsente Militärfotografie. Erstaunlich sind so die Ansichten von Friedrich Brandt und Charles Junod aus den Gräben des deutsch-dänischen Kriegs von 1864, erschütternd die 1870 von deutschen Kanonen sturmreif geschossenen französischen Städte, Straßburg und St. Cloud, oder die Ruine der gotischen Kathedrale von Soissons.

Wie oft schwindelerregend das Fotografieren damals vor und hinter der Kamera war, zeigt ein grandioses Bild des Badischen Hoffotografen Franz Richard, der 1864 vor der Fassade des frühbarocken Ottheinrichsbaus im Innenhof des Heidelberger Schlosses posiert: auf einem über 20 Meter hohen Fastnichts aus drei, vier Stangen, selber in den Himmel ragend wie die steinernen Giebelfiguren hinter ihm. Ein Luftikus. Ohne sicheren Halt, aber in Anzug, Hut und strammer Haltung. Künstler, Diener, Zeuge einer verlorenen, hier wiedergefundenen Zeit.

„Deutschland in frühen Photographien 1840 – 1890“, im Münchner Stadtmuseum bis 20. Mai. Als Buch im Schirmer/Mosel Verlag, München. 365 Seiten, über 300 Abbildungen, 49,80 Euro.

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