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Zehntausende können irren. Vertreter der „Volksgemeinschaft“ bejubeln Hitler beim „Reichserntedankfest“ am Bückeberg, vermutlich am 6. Oktober 1935, von SS-Männern mit Toten-Kopf-Mützen in Schach gehalten.

© Imago/Sepp Siegl

Hitler-Biografie von Peter Longerich: Der große Diktator

Aufstieg eines Niemands: Peter Longerich stellt in Berlin seine 1300-seitige Hitler-Biografie vor. Seine These lautet: „Hitler ist größer als zuletzt dargestellt."

Er ist wieder da, behauptet ein Film, den schon mehr als zwei Millionen Zuschauer gesehen haben. Aber war Hitler überhaupt jemals fort? Jetzt erscheint Peter Longerichs 1300-Seiten-Biografie über den Diktator, 17 Jahre nach Ian Kershaws bahnbrechendem zweibändigem Werk. „Hitler war ein handelnder Politiker, weit flexibler als gedacht“, sagt der Zeithistoriker Longerich, der in Krefeld geboren wurde und in London lehrt, bei der Berliner Präsentation seines Buchs in der Stiftung Topographie des Terrors. Das Buch ist ein Einspruch, geschrieben gegen einen Großteil der herrschenden Forschungsmeinung zum Nationalsozialismus und zu Hitler.

Historiker wie Hans Mommsen und Ian Kershaw haben versucht, Hitler aus seiner Zeit und der Umgebung heraus zu verstehen, für sie war er vor allem ein Produkt der Umstände. Kershaw stellte die Interaktion zwischen dem Diktator und der Gesellschaft in den Mittelpunkt seiner Biografie und formulierte die Diagnose, bei der Radikalisierung der Judenverfolgung hätten die Deutschen „dem Führer entgegengearbeitet“. Die Dynamik des Systems, die Entfesselung von Gewalt und Terror konnte der Brite so schlüssig erklären. Doch bei dieser Herangehensweise, sagt Peter Longerich im Gespräch mit dem Topographie-Hausherrn Andreas Nachama, sei Hitler „in den Strukturen untergegangen“.

Eine extreme Persönlichkeit

Dabei, so Longerich, gehörte es doch gerade zu den Charaktereigenheiten der „extremen Persönlichkeit“ Hitler, sich „aus Angst vor dem Kontrollverlust“ nicht in vorgegebene Strukturen einordnen zu wollen. Das Durchbrechen von Strukturen sollte kennzeichnend werden für die gesamte nationalsozialistische Bewegung. Nur einmal unterwarf Hitler sich einer fremden Ordnung. Das war, als er sich im Ersten Weltkrieg freiwillig meldete. Doch als Meldegänger schaffte er es, sich den Zwängen zu entziehen. Fortan operierte er zwischen den Linien, ein Einzelgänger ohne engere Anbindung an die kämpfende Truppe.

Der Prolog des Buchs trägt den Titel „Ein Niemand“. Bis zu seinem 30. Lebensjahr war Adolf Hitler ein Gescheiterter. Kein Schulabschluss, an der Kunsthochschule abgelehnt, im Obdachlosenasyl gestrandet. Nach dem Ersten Weltkrieg hätte er kaum weiter vor der Münchner Frauenkirche Postkarten verkaufen können. Doch die Reichswehr schickte ihn als Agitator zur rechtsradikalen Deutschen Arbeiter Partei. Hitler, sagt Longerich, sollte ein Werkzeug sein, „aber dieses Werkzeug hat gelernt“.

Der Weltkriegsgefreite setzte sich an die Spitze der Politsekte und baute sie zu einer Volkspartei aus, die anders als die konkurrierenden Parteien an kein Milieu gebunden war. Gewählt, so Longerich, wurde die NSDAP am Ende der Weimarer Republik aber nicht wegen Hitlers Charisma, sondern weil ihre Wähler von der Demokratie enttäuscht waren und „keine Alternativen hatten“.

Hitler erscheint als gewiefter Politakteur, der ein klares Programm verfolgt und auf „extreme Personalisierung“ setzt. Wenn er zu einer Rede anreist, ist das eine Auszeichnung für seine Gastgeber. Minutiös schildert Longerich, wie es Hitler gelingt, dass Konkurrenten wie die Strasser-Brüder vom linken Parteiflügel sich nicht an ihm, sondern „aneinander abarbeiten“.

Durchtränkt vom Antisemitismus

Vom Antisemitismus war Hitler geradezu durchtränkt. Bereits Ende 1926 spricht er in einer Rede – ein guter Archivfund – davon, die Juden „ausrotten“ zu wollen. Ungefähr zur selben Zeit fordert er „Boden“ im Osten für „unser deutsches Volk“. Daraus wird später der Begriff vom „Lebensraum“, den die Wehrmacht ab 1939 erobert. Der Kernbestand seines ideologischen Denkens hatte sich früh geformt.

In stundenlangen Ansprachen repetierte Hitler immer wieder Floskeln wie „Wir müssen rassenbewusste Deutsche sein“, als wollte er sie seinem Publikum einbläuen. An seinem größten Ziel, eine klassenlose, ideologisch geeinte Volksgemeinschaft zu schaffen, ist er dennoch gescheitert. Es gibt keine ethnisch reinen Großgruppen, und die Deutschen blieben durchaus standes- und klassenbewusst.

„Hitler ist größer als zuletzt dargestellt“, so lautet die These, die Peter Longerich beweisen möchte. Er will dessen Entourage und das deutsche Volk nicht aus ihrer Verantwortung entlassen, doch der Diktator habe mit „beispiellosem Handlungsspielraum“ Entscheidungen „auf allen Ebenen“ getroffen. Selbst in die Festsetzung von Arbeitslöhnen (eingefroren für die Aufrüstung) oder beim Import von Saatgut (Sicherung der Versorgung) mischte sich der „Führer“ ein.

Attacken in Fußnoten

Longerichs Hitler-Bild ist zugespitzt, mit Fußnoten attackiert er immer wieder andere Forscher wie Martin Broszat und Ian Kershaw. Seine Geschichte kann er nur in permanenter Abgrenzung erzählen. Dabei referiert er über weite Strecke auf eher öde Art die Ereignisgeschichte, Analysen von Hitlers Reden hingegen setzen Glanzlichter. Longerich, der bereits Biografien über Himmler und Goebbels veröffentlichte, hält sich an bekannte Quellen wie die Akten der Reichskanzlei oder Goebbels’ Tagebücher. Er hat auch die „Linzer Tagespost“ gelesen, die Hitlers Familie 1902/03 abonniert hatte, macht aber wenig daraus.

Den Holocaust schildert Longerich aus der Entscheider-Perspektive, anders als bei Kershaw bleiben die Opfer Zahlenkolonnen. In den Massenmorden sollte sich Hitlers „Prophezeiung“ erfüllen, ein neuer Weltkrieg werde zur „Vernichtung“ der europäischen Juden führen.

Peter Longerich: "Hitler". Biographie, Siedler Verlag, München 2015, 1296 S., 39,99 €

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