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Melodie der Straße. Dieses Foto eines Leierkastenmanns, der 1958 Berliner Kinder unterhält, stammt aus dem „Berliner Liederbuch“.

© akg-images / Erich Lessing

Hits der Hauptstadt im „Berliner Liederbuch“: Und der Pirol pickt Sauerkohl

Der Komponist Niels Frédéric Hoffmann hat ein „Berliner Liederbuch“ mit Gassenhauern und Couplets aus 200 Jahren herausgegeben. Die größten Hits entstanden auf der Straße und in Hinterhöfen.

Ungemein berlinisch, dieser Hausflur. Abgegriffene Wände, ausgeblichener Sisal auf den Stufen, an einer Wohnungstür ein Schild mit Schäferhundkopf „Hier wache ich“, vor einer anderen Tür niedliche Osterhasen als Plastikdeko. Das ist Charlottenburg, wo es rau und einfach ist.

Ungemein hanseatisch, der Herr. Niels Frédéric Hoffmann steht in der Tür. Ein Mann mit rosigem Gesicht und einem Humor trocken und hamburgisch wie sein Akzent. Da wurde der Musiktheoretiker und -pädagoge geboren, da hat der freie Komponist seine ellenlange Werkliste verfasst. Da leitete er 30 Jahre lang den Chor Hamburger Gewerkschafter. Da richtet er an der Staatsoper auch jetzt – mit 71 – regelmäßig Kinderopern ein und haut als singender Wotan sogar selbst aufs Donnerblech.

Ausgerechnet ein eingefleischter Norddeutscher also nimmt sich nun des Berliner Liedguts an – samt heiliger Trouvaillen wie „Im Grunewald ist Holzauktion“, „Berliner Luft“, „Das war in Schöneberg“, „Berlin bleibt doch Berlin“ oder „Pack die Badehose ein“. Kann das gut gehen? Es kann. Wer wohnt, wo Hoffmann wohnt, der hat auch den nötigen Hang zum Küchenpersonal, zu den kleinen Leuten, zur Straße.

Heiter zeigt Hoffmann aus dem Fenster ins Verkehrsgetöse. „Da oben liegt das Schloss und da gegenüber der Puff, das ist hier meine Lebenssituation.“ Selbstverständlich ist er keineswegs unglücklich drüber. Das Bild passe gut zum Berliner Lied, sagt er, zu dessen Verbindung zum Plebejischen wie zur Hochkultur. „Keine andere deutschsprachige Stadt hat so eine Straßenmusikkultur hervorgebracht“, sagt er. Bloß Wien, aber das ist ja Österreich. Über das populäre Liedgut des Volkes, den Gassenhauer – die städtische Form des Moritatengesangs, der sich in Berlin zum Couplet, zur Revue und zur Operette weiter entwickelte –, hat er schon einige Abhandlungen geschrieben. Und er selbst wohnt schließlich auch schon seit 19 Jahren hier.

Wegen ihr, sagt er, und zeigt zum Arbeitszimmer seiner Frau, einer Grafikerin, hinüber. Die sei überzeugte Berlinerin. Und das, obwohl sie aus Posen stammt. Zum Plaudern führt er in das eigene Arbeitszimmer. „Das nennt meine Frau das hanseatische, weil es so gediegen ist.“ Dunkles Kontormobiliar, Büsten, Bücher und Partituren bis unter die Decke, eine Snaredrum, eine Glasenglocke, ein Bündel aufgehängter Medaillen, neben dem Piano lagern Rollerblades. Wozu die sind? Niels Frédéric Hoffmann amüsiert sich. Bei ihm verfängt auch wirklich gar kein Klischee vom weltfernen Tonsetzer. Der Mann spielt Eishockey in einer Altherrenmannschaft. Und er ist auch noch Inlineskater. Schon 40 Marathons gelaufen. In Berlin sei stets die beste Stimmung an der Strecke. „Sagenhaft, was da los ist!“ Na, bitte, dem Mann kann man trauen, der ist voll auf Linie, durch und durch berlinisiert.

Sein „Berliner Liederbuch“, eine mit Noten, Liedtexten, zeitgenössischen Fotos und Illustrationen ausgestattete Kombination aus Coffeetable-Book, Mitsingfibel und Kulturgeschichte, vereint 22 Lieder aus 200 Jahren. Hoffmann hat sie konsequent nach einem einzigen Kriterium ausgewählt: der Popularität. Wobei Unter-Hundertjährigen nicht unbedingt jede ältere der zwischen 1800 und 1966 entstandenen Melodien aus dem Effeff geläufig ist.

Dietrich und die Knef waren die großen Diven des Nachkriegslieds.

Etwa „Lampenputzer ist mein Vater“, eine freche Persiflage auf das wenig prestigeträchtige Familienleben der Gaslaternenreiniger, im 19. Jahrhundert im sogenannten Parodieverfahren entstanden, wie Niels Frédéric Hoffmann erzählt und schreibt. Die musikalische Vorlage ist der seinerzeit beliebte Feuerwehr-Galopp von Peter Ludwig Hertel, die Textdichter sind unbekannt. Oder Fredy Siegs „Lied von der Krummen Lanke“ aus den Zwanzigern. Eine in eine Ehescheidung mündende, halb hochdeutsche, halb berlinernde, gottlob unblutige Beziehungsmoritat mit allerliebsten Reimen wie „über uns sang schmelzend ein Pirol / neben uns aß einer Wurst mit Sauerkohl“.

Niels Frédéric Hoffmann lässt sich nicht lange bitten. Schon hockt er am Klavier und spielt ein paar seiner favorisierten Weisen an. Was ist das? Ach ja: „Solang noch untern Linden“. Eigentlich ein Marsch von Willi Kollo, erklärt er. „Aber Hilde Knef hat eine wunderbar wehmütig verschliffene Ballade daraus gemacht.“ Überhaupt die Kollos – Walter und Willi – vom melodischen Reichtum ihrer Lieder kann Hoffmann gar nicht genug schwärmen. Paul Lincke, den anderen großen Berliner Lieder- und Operettenkomponisten, hält er zwar für urig, aber für brachial in seinen kompositorischen Mitteln. „Die Harmonien sind, gelinde gesagt, einfach.“ Aber, wie die jetzt von ihm mit lautem Duff, Duff, Duff geschmetterte „Berliner Luft“ als Ohrwurm ungemein wirkungsvoll.

So wie das Wiener Lied mit dem Walzer verschwistert ist, ist es das Berliner Lied mit der Polka und dem Marsch, leitet Hoffmann an Beispielen wie „In Rixdorf ist Musike“ oder „Im Grunewald ist Holzauktion“ her. Im Buch erzählt er dazu etwas über den Stellenwert der Militärmusik samt ihrer Platzkonzerte, die in zahllosen Ausflugslokalen und Ballhäusern blühende Amüsierkultur der prosperierenden Gründerzeitstadt und ihre in die Liedkultur eingegangenen Originale wie die Hinterhof-Harfenistin „Harfenjule“ und den Eckensteher Nante.

Davor, dass die Sache nicht in eine folkloristisch putzige Überdosis Zille-Milljöh abgleitet, bewahrt Hoffmann sein musikalischer Sachverstand und das Bemühen, anhand von Komponisten- und Texterschicksalen zu erzählen, wie die Nazis dem Berliner Lied in den Dreißigern und Vierzigern den Garaus machten. „Daran, wie weit sie in diese Bereiche vordringen, erkennt man die Totalität eines Systems“, sagt Hoffmann.

Jetzt spielt er „Ich hab’ noch einen Koffer in Berlin“ an. Das F-Dur-Original von Ralph Maria Siegel, dem Vater des notorischen Grand-Prix-Matadors Ralph Siegel, hat er im Buch in C-Dur transponiert. So lässt es sich leichter singen. Der Komponist des zuerst 1951 von Bully Buhlan – später von Marlene Dietrich und Hildegard Knef, den beiden großen Damen des Berliner Nachkriegslieds – gesungenen Songs, habe sich unter den Nazis pflichtschuldigst vom „Nigger-Jazz“ distanziert. „Und kaum ist der Krieg vorbei, schreibt er dieses Lied aus Ragtime-Harmonien.“

Der Ragtime ist nicht die einzige Überraschung, der Hoffmann bei seiner Liedanalyse begegnet ist. Das „Bolle-Lied“, das 1930 zum ersten Mal in einer Sammlung des Volkskundlers Hermann Krügler auftaucht, ist mit seinem Text über eine Keilerei in Pankow auf der Schönholzer Heide zwar ein typischer Gassenhauer, aber wenn man den Rhythmus verändert, entpuppt sich „Bolle reiste jüngst zu Pfingsten“ tatsächlich als Countrysong. „Mit einer für deutsche Musik völlig ungewöhnlichen Harmoniefolge“, sagt der Mann am Klavier.

Dass seine Sammlung mit Botho Lucas’ charmanter Nachkriegsballade „Kleiner Bär von Berlin“ endet, liegt übrigens nur daran, das womöglich noch ein weiterer Liederband folgen soll. Schließlich geht die Geschichte des Berliner Liedes immer weiter. Selbst wenn das Singen in den Gassen und Hinterhöfen nicht mehr erste Volksbelustigung ist. Dafür sei dann halt eine andere Form populärer Musik gekommen. Auch der Rock, der Punk, der Rap hätten entsprechende Lieder, sagt Niels Frédéric Hoffmann. „Es ist immer die Straße, diese rotzfreche Schmuddelkultur. Die alten Berliner Lieder, die sind der Rap von damals.“

Niels Frédéric Hoffmann: Berliner Liederbuch. Lieder und Geschichten aus 200 Jahren, Elsengold Verlag, 112 S., 19,95 €. Am 23.5. um 20 Uhr stellt der Autor sein Buch vor - im Metzer Eck, Metzer Str. 33, Prenzlauer Berg.

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