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Musik macht mobil. Der Belcanto-Tenor Rafael Ortiz unterrichtet die Hobby-Opernsängerin Martina Andersohn.

© Doris Spiekermann-Klaas

Hobby-Opernsänger: In der Stimme klingt der Mensch

Das Leben ist eine Oper, alle singen Arien: Die Staatsoper zieht um – und immer mehr Berliner erheben ihre Stimme. Begegnungen mit Hobby-Sängern.

Es bewegt sich was in der Berliner Opernszene. Die Staatsoper macht sich mit einem gewaltigen Tross auf den Weg Richtung Westen, am Sonntag schippern Daniel Barenboim und Jürgen Flimm per Schiff in ihre neue Heimat. Eine riskante Passage, befindet sich der härteste Konkurrent, die Deutsche Oper, doch in Sichtweite des zeitweiligen Domizils im Schiller Theater: Charlottenburg wird das neue Epizentrum der Berliner Opernlandschaft – jedenfalls für die drei Jahre, in denen das Haus Unter den Linden restauriert wird.

Während sich die Profis also in der Nähe des Ernst-Reuter-Platzes drängeln, wächst nahezu unmerklich in allen Ecken der Stadt eine Subkultur von Hobbysängern heran, die ihren Idolen mit harter Arbeit und entbehrungsreichen Gesangsstunden nachzueifern versuchen. Spätestens seit sich der britische Handyverkäufer Paul Potts bei einer Castingshow mit Puccinis „Nessun dorma“ in die Herzen von Millionen sang, ist klar, dass jeder Opern singen kann – mit einem gewissen Talent, Stehvermögen und Leidenschaft. Und da Berlin zwar arm und sexy, aber reich an Opernhäusern ist, gibt es auch noch jede Menge Möglichkeiten, sich inspirieren und qualifizieren zu lassen.

Was hat es auf sich mit der Lust, sein Innerstes lautstark nach außen zu tragen? Wie kommt jemand, der den ganzen Tag am Schreibtisch sitzt, auf die Idee, abends mit stoischer Ausdauer Arien zu proben? Rafael Ortiz, Lehrer des Belcantogesangs und ein Vulkan von einem Tenor, beschreibt es so: In der Stimme klingt der Mensch. „Eine meiner Schülerinnen betreut am Tag Problemfamilien und verwandelt sich abends in die Königin der Nacht aus Mozarts ,Zauberflöte’. Wenn Sie den Willen haben und all Ihre Leidenschaft mobilisieren, dann kann ich Sie zu den Sternen führen.“ Opern singen, das sagt er auch noch, ist wie guten Sex haben; es versetzt den ganzen Körper in Schwingung.

Ortiz, in New York aufgewachsener Puertoricaner, hat die Bühnen der Welt bereist und weiß, wie er den Kehlen seiner meist weiblichen Klientel den Belcanto entlockt. In seinem kleinen Zimmer, vollgestopft mit handsignierten Fotos der Weltstars, herrscht allabendlich eine einzigartige Atmosphäre von Intimität und Intensität, in der die Singenden tief Verborgenes hervorzaubern und sich neu entdecken. Da kommt es vor, dass eine Ärztin in Tränen ausbricht, weil sie nicht fassen kann, was ihr da gerade gelungen ist.

Es gibt nicht nur Ortiz. Ein wahres Heer an Gesangslehrern buhlt um eine passionierte Klientel aus Hausfrauen, Steuerberatern, Ärzten, U-Bahnfahrern, Kellnern und Zeitungsverkäufern. Hinzu kommen zwei Musikhochschulen, Workshops, Seminare, Kurse und an die 200 Chöre, mit denen man sich in die Welt der großen Gefühle hineinsingen kann. Da wird gelitten und gestritten, gefühlt und geflirtet, geweint und gelacht, bis die Lunge pfeift.

Dass Gesang befreiend wirkt, hat auch der 62-jährige Dieter Starke erlebt. Zweimal die Woche steht der Zeitungsverkäufer in seinem Laden unweit des Ku’damms und verkauft neben Zeitungen, Eis und Zigaretten auch ein Stück Lebenslust. Der Laden ist seine Bühne, die Kunden sind sein Publikum. Sein Leben ist bisher wahrlich kein Wunschkonzert gewesen – aber vor zwei Jahren fing er an, Gesangsstunden zu nehmen. Nicht ganz unschuldig an diesem Entschluss ist seine 82-jährige Freundin, eine charmante Arztwitwe und Opernliebhaberin, die sofort erkannte, dass mehr in ihm steckt als ein Zeitungsverkäufer. Seither fördert sie ihn, verwöhnt und bekocht ihn und führt ihn einmal im Monat in eins der drei Opernhäuser der Stadt aus. Dann sieht Dieter Starke zu, wie die Profis es machen – um in der nächsten Gesangsstunde mit noch mehr Verve von der großen Liebe zu singen.

Überhaupt nehmen die Alltagsgeschichten der Hobbysänger mitunter selbst opernhafte Züge an. Da droht mal ein 90-jähriger Opernstar seiner 70-jährigen Angebeteten schon mal mit Selbstmord, falls sie ihn verlassen sollte. So geschehen in einem Lichterfelder Altenheim, wo der betagte Anton Metternich seit einem Jahr untergebracht ist. Die beiden lernten sich in einer Steglitzer Pizzeria kennen, fast täglich kommt ihn Uschi Wachsmuth in ihrem pinkfarbenen Opel besuchen. Er kann so ein Egoist sein, klagt sie – dabei will sie nur, dass jemand, der sein Leben lang das Publikum beglückt hat, von der Welt nicht vergessen wird. Und zum Dank spielt er den eifersüchtigen Gehörnten! Anton Metternich wähnt sich eben immer im großen Finale.

Viele singen gegen ihre Einsamkeit an, meint Rafael Ortiz. Er kennt das, es geschieht in den Stunden nach dem Unterricht oder spät in der Nacht. Dann kommt diese Leere und man will schnell wieder zurück in die Musik. Gesang macht schwerelos, lässt einen Dinge sagen, für die die Worte fehlen, und in fremde Rollen schlüpfen. Sie ist eine Maske, die den Sänger zur Kenntlichkeit entstellt. Ein Spiel, gespielt mit dem heiligen Ernst eines Kindes – etwas, das uns im Leben abhanden gekommen ist.

Dieter Starke kennt das. Als Nachkriegskind musste er schon früh arbeiten, um die Familie mit durchzubringen. Heute meint er, es wuchsen zwei Dieter auf in all den Jahren. Einer der machte, was verlangte wurde, und ein anderer, der so verrückt war, weiterzuträumen. Er schrieb Gedichte und fing an zu singen, um der Zerrissenheit ein Ende zu setzen.

Von derartigen Lebenszweifeln hat Adriano Luongo bisher nichts mitbekommen. Im Gegenteil. Der Sohn einer Rumänin und eines italienischen Pizzabäckers sah im zarten Alter von sechs Jahren eine Mozart-Arie im Fernsehen und sagte „Wow“. Heute, mit 13, singt Adriano so schön, dass ihn eine renommierte Sopranistin in ihre Obhut genommen hat. Wenn Adriano singt, spielt er das Leben schon mal durch. „Ihr wisst, was Liebe ist, Frauen, seht, ich habe sie im Herzen!“. Auf die Frage, ob derartige Worte aus Mozarts Arie des Cherubino in „Figaros Hochzeit“ Mädchenherzen nicht höher schlagen lassen, schaut er schüchtern nach unten. All zu schnell möchte er vom Leben dann doch nicht eingeholt werden.

In zwei Wochen feiert die Staatsoper Saisonpremiere im Schiller Theater. Wenn es gelingt, Oper wieder dort ankommen zu lassen, von wo aus sie vor Jahrhunderten ihren Siegeszug antrat, nämlich im Alltag der Menschen, dann hat diese oft als elitär gescholtene Kunst eine Zukunft. Wer weiß, vielleicht schafft es ja eine von Ortiz’ Schülerinnen auf die Bühne der Staatsoper, wenn sie im Oktober 2013 wieder eröffnet.

Der Filmemacher Uli Gaulke („Havanna mi Amor“, „Comrades in Dreams“) lebt in Berlin. Angeregt vom Staatsopern-Umzug arbeitet er gerade an einem Film über Hobby-Opernsänger in Berlin. Wer Lust hat mitzumachen, kann sich unter berlinoper@uli-gaulke.de melden

Uli Gaulke

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