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Kultur: Hobo sapiens

Meisterwerk mit Seemann: Les Murray stellt in Berlin seinen Versroman „Fredy Neptune“ vor

Es sind die Abenteuerromane unserer Kindheit, deren Glanz uns von jeder Seite des grandiosen Versromans „Fredy Neptune“ von Les Murray entgegenfunkelt. Mit Odysseus hat man den Titelhelden, dieses Alter Ego des australischen Dichters mit deutschen Vorfahren, verglichen, weil auch der Seemann Fredy ein Herumtreiber ist, der zurück möchte in ins Outback, nach Bunjah in New South Wales. Aber so schnell kommt er dort nicht an. Denn er ist nicht nur seiner Heimat, sondern auch seiner Empfindungen beraubt. Wo andere etwas fühlen, fühlt Fredy, der Zeuge eines türkischen Massakers an armenischen Frauen wurde, nichts mehr – und ist damit wie geschaffen für eine Reise durch ein Jahrhundert der Kriege und Nachkriege.

„Fredy Neptune“ ist Les Murrays großer Wurf (aus dem australischen Englisch von Thomas Eichhorn, zweisprachige Ausgabe im Zürcher Ammann Verlag, 519 S., 29,90 €): ein Epos, dessen Rhythmus gefangen nimmt, das bewusst alle Grenzen sprengt und vom Hundertsten ins Tausendste kommt. Ein Privatgebirge aus Hügeln, Kratern und Klippen. Den Vergleich mit Homers „Odyssee“ lehnt Les Murray freilich ab. „Für ein Epos ist es gerade recht, wenn man seinen eigenen brandneuen Mythos erfindet“, sagt er und distanziert sich damit von Derek Walcotts „Omeros“, dessen Sprachreichtum er zwar bewundert, das aber eben nur einen schon existierenden Mythos im neuen Gewand zeige.

1992 kam das Epos „als Embryo“ zu ihm. Der Auslöser war ein armenisches Gedicht, in dem ein Zeuge jenes Massaker in Worte zu fassen versucht, das auch Fredy Neptune prägt: „Sie legten eine Fackel an die nackten Frauen. / Und da war Tanzen. Die verkohlten Körper rollten // Erschüttert schloss ich meine Fensterläden wie im Sturm, / Wandte ich mich um nach dem, der fort war, fragte: ’Diese meine Augen – / Wie soll ich sie aus ihren Höhlen reißen, wie nur, wie’“, heißt es dort. Zwischen 1993 und 1997 hat er die aus fünf Büchern bestehende Geschichte dann mit Intervallen von sechs bis acht Wochen zwischen den einzelnen Teilen niedergeschrieben und nicht nur seinen Helden, sondern auch sich selbst von einer schlimmen Depresssion erlöst, die Ende der achtziger Jahre über ihn gekommen war.

Wer ist dieser Fredy Neptune? Zum einen der, der wir alle gerne einmal wären: der große Reisende, der sich durchschlägt, als Seemann, Pferdehändler, Hochstapler, Muskelmann und Kleindarsteller in Hollywood. Der sich mal ganz unten, mal ganz oben in der sozialen Hierarchie wiederfindet. Mal mit Pennern zu sehen ist und mal bei den Eliten mitmischt. Ein Selfmademan: ungehobelt, etwas naiv und ganz schön sympathisch. Die Sprache, die Les Murray seinem Helden in den Mund legt, ist dem Soziolekt der Landarbeiter aus der Jugendzeit seines Vaters abgeschaut. Elementar und kurz. Griffig. Manchmal nah am Gauner-Rotwelsch, sehr lebendig.

Als Leser glaubt man bisweilen, dem Abenteurer selbst am Lagerfeuer oder in irgendeiner Spelunke gegenüber zu sitzen. Dabei legt Les Murray Wert darauf, dass es beim Ton seines Versromans nicht um eine Abgrenzung von der Hochkultur ging. „Es blieb immer mein fester Vorsatz, die Hochkultur nicht auszustechen, sondern etwas ihr Ebenbürtiges zu schaffen.“

Bis in das Deutschland der „Braunhemden“ führt Fredy seine Odyssee. Da hat er eine Frau gefunden und wieder verloren, hat seine Mutter gesucht und Amerika als Hobo durchstreift. Sogar Marlene Dietrich hat er kennen gelernt: „Sie sah mich an mit jenem Dietrich-Blick von einem Tisch voll Kaffeetassen, / als säße sie im Kranzler, hieß mich setzen, winkte Männer fort, / die um sie herumscharwenzelten...“ Erst am Ende kann Fredy wieder etwas empfinden, ist seine „Nullzeit“ vorbei und der „Nullkörper“ abgeworfen. Er steckt wieder in seinem eigenen Körper: „Und meine Hüften waren nicht mehr gläsern unter meinen Seidenhänden, / sondern behaart und porig.“

Les Murray, 1938 in Bunjah geboren, wo er heute wieder lebt, hat einmal gesagt, Dichtung sei grundsätzlich unfähig zur Lüge. Weil die Poesie stets vom Eigenen ausgehe, so artistisch, verquer oder gelehrt sie sich geben mag. Dahinter steht Murrays Bild vom Dichter und der Welt. Ein Bild, in dem Traum und Tag zusammenfinden. „Religionen sind Gedichte. Sie bringen / unseren Tages- und Traumgeist in Einklang, / unsere Gefühle, Instinkte, den Atem und die uns angeborene Gestik“, heißt es in seinem wohl berühmtesten Gedicht „Dichtung und Religion“.

Die letzten Worte in „Fredy Neptune“ lauten: „Das Leben ist zu groß: es lässt sich nicht beschreiben." Aus diesem Widerspruch lebt jedes bedeutende literarische Werk – auch dieses, das sich nun zu den wunderbaren Gedichten gesellt, die wir schon von Murray kennen: Gedichten von den Orten der Landarbeiter, von Traktoren, Milchkühen am Schlachttag, Sägewerken und den weiten Flächen des fünften Kontinents.

Man hat Les Murray mit Seamus Heaney und Derek Walcott verglichen und ihn wiederholt für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen. Der buddhahafte Australier will davon wenig wissen. Er sei nichts anderes als ein Dichter, sagt er. Wie groß dieser Dichter ist, zeigt „Fredy Neptune“.

Les Murray liest heute um 20 Uhr zusammen mit Friedhelm Ptok im Berliner Literaturhaus.

Volker Sielaff

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