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Kultur: Hochmut kommt nach dem Fall

Lange schwiegen Frankreichs Intellektuelle. Jetzt sehen sie die Republik in Gefahr

Man kann nicht behaupten, die französischen Intellektuellen und Künstler hätten vor dem sozialen Drama, das seit dreißig Jahren in den Banlieues gärte und bisweilen explodierte, die Augen verschlossen. Bereits 1993 lenkte Pierre Bourdieu mit seinem Buch „Das Elend der Welt“ die Aufmerksamkeit auf Frankreichs Misere. In ausführlichen Interviews hatte der berühmte Soziologe Menschen zu Wort kommen lassen, die sozial litten und auf unterschiedliche Weise, mitten in Frankreich, an den Rand der Gesellschaft gedrängt waren. Viele dieser Stimmen kamen aus den so genannten Banlieues.

Zwei Jahre später erschien der Film zum Buch: „Hass“ war sein Titel und es bedurfte keiner prophetischen Gabe, um vorauszusehen, dass Mathieu Kassovitz’ Streifen über drei Jugendliche aus der Pariser Vorstadt zum Kultfilm werden sollte. Er begann gleich mit einem spektakulären Showdown: Ein Junge stürzte aus dem 50. Stockwerk eines Wohnturms in die Tiefe, und bis heute bleiben seine Worte im Ohr, die er Etage für Etage wiederholte: „Bis hierher lief’s noch ganz gut, bis hierher lief’s noch ganz gut. Doch wichtig ist nicht der Fall, sondern die Landung.“

Die Landung, die Frankreich derzeit erlebt, ist nicht unsanft, sie ist brutal und vollständig auf der Höhe des Hasses. Ganz offensichtlich hat sie all denen, die den freien Fall seit Jahrzehnten beobachten, die Sprache verschlagen. Seltsam schweigsam sind Frankreichs Intellektuelle und Künstler angesichts der sozialen Katastrophe, die in den brennenden Autos ihr Symbol gefunden hat. Der Filmemacher Bertrand Tavernier, der mit „De l’autre côté du périph’“ („Jenseits des Stadtrings“) einen eindringlichen Dokumentarfilm über das Leben in der Banlieue im Selbstversuch vorgelegt hat, will sich zum Thema nicht äußern. Selbst Kassovitz versteckt sich hinter der Ausrede, er habe einfach zu viele Interviewanfragen – und schweigt gegenüber der französischen Presse. Stattdessen polemisiert er lieber halböffentlich auf seiner eigenen Webseite gegen Innenminister Nicolas Sarkozy. Dort rang Kassovitz sich immerhin zu dem Geständnis durch, er müsse sich zusammenreißen, die Krawallmacher nicht aufzumuntern.

Und wo sind die Intellektuellen? Wo ist beispielsweise Bernard-Henri Lévy, der als Geschäftsreisender in Sachen Menschenrechte im blütenweißen Hemd an jedem Krisenherd dieser Erde steht? Er sitzt in seinem museumsgroßen Appartement am Pariser Boulevard Saint-Germain und ringt sich seine wöchentliche Kolumne für das Magazin „Le Point“ zum Thema ab, in der er von der „schwarzen Energie des reinen Hasses“ spricht, vom Verfolgungswahn der jugendlichen Krawallmacher. Das ist alles. Als Alt-68er weiß Lévy, wovon er spricht. Auch er stand schließlich einmal auf den Barrikaden. Aber da liegt der ganze Unterschied und vermutlich auch der Grund, warum Frankreichs Intellektuelle kein Debattenbedürfnis haben und nicht in einer spektakulären Aktion gegen die Misere der Vorstädte und den Offenbarungseid der politischen Klasse mobil machen: Man darf mit Rekurs auf die alten Bilder der Revolution, die fest im kollektiven Unterbewusstsein eingeschrieben sind, in diesem Land auf die Barrikaden steigen, man darf Feuer machen, den Verkehr lahm legen – aber es muss an Forderungen gebunden sein. Die Symbole der Gewalt müssen mit einem Diskurs einhergehen. Die schwarzen und arabischen Jugendlichen sind indes völlig apolitisch. Sie entladen ihre Wut forderungslos. Sie gehorchen einzig und allein der Logik der Einschaltquote. Dieses mediale Cogito, „Ich zündele, also bin ich“, beklagt ausgerechnet Nikos Aliagas, der Moderator der „Staracademy“, ohne indes den Zusammenhang mit seiner eigenen Show herzustellen: Dass sich die randalierenden Jugendlichen die Drei-Sekunden-Berühmtheit, die Sendungen wie „Starac“ kultivieren, hier nur auf andere Weise beschaffen.

Auf gewisse Weise verübelt wird den Jugendlichen nicht nur die blinde, apolitische Gewalt, diese „schwarze Energie“, von der Lévy spricht, sondern auch die Tatsache, dass die Krawalle Ausdruck des Scheiterns des republikanischen Ideals sind. Der Soziologe Michel Wieviorka hat darauf hingewiesen, dass ausgerechnet die Intellektuellen, die in den achtziger, neunziger Jahren das republikanische Modell geradezu besungen haben, sich bislang nicht zu den Aufständen geäußert haben. Alain Finkielkraut hat das jetzt, nachdem die Krise schon zwei Wochen alt ist, nachgeholt. Und tatsächlich zeigt sich der Philosoph in dem Interview, das er dem „Figaro“ gab, auf intellektuelle Weise gekränkt: Die Gewalt sei keine Reaktion auf die Ungerechtigkeit der Republik, sondern ein „gigantisches, antirepublikanisches Pogrom“.

Allein sein Vokabular legt nahe, dass man den Spieß vielleicht einfach nur umdrehen muss. Leiden Frankreichs Intellektuelle womöglich unter politischen Verfolgungswahn durch einen wütenden Mob von Immigranten der zweiten und dritten Generation, die ihnen nur eines vor Augen führen wollen: Dass ihr Ideal, ihr viel beschworenes republikanisches Modell gescheitert ist? Hinzu kommt, dass Frankreichs intellektuelle Elite von der Wirklichkeit mindestens genauso abgehoben ist wie die politische. Das bekommt sie im Augenblick deutlich zu spüren, zugleich blockiert das ihr Denken. Auch deshalb vermag im Augenblick niemand im Land die Lage so schonungslos zu analysieren wie Außenstehende. So schonungslos wie der deutsche, in Paris lebende Schriftsteller Michael Kleeberg, der den Abgrund zwischen der Verheißung, Franzose zu sein, und der rassistischen Wirklichkeit beschreibt, und für diese im Traditionalismus erstickende Apartheidsgesellschaft Frankreich so etwas wie einen New Deal fordert. Oder wie Jane Kramer vom „New Yorker“, die mit den „Wohlfahrts-Ghettos“ auch den französischen Integrations-Imperativ „Ihr-müsst-so-werden-wie-wir“ scheitern sieht und damit das, was sie als „most mystical Frenchness“ bezeichnet.

Es fällt nicht leicht, sich das Ende eines Mythos einzugestehen. Deshalb wird derzeit auf intellektuellen Nebenschauplätzen diskutiert. Über „positive Diskriminierung“, über Versäumnisse in der Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit. Über gescheiterte Städtepolitik und das Verbrechen der Architektur. Als zählte nach der Bruchlandung tatsächlich immer noch der Fall.

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