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Kultur: Höchstes Leiden, höchste Lust

Das Theater schlägt zurück: Botho Strauß’ „Die Schändung“ als deutschsprachige Erstaufführung am Berliner Ensemble

Er hat sich solche Mühe gegeben, der Dramatiker Botho Strauß. Hat ein Kind im Prolog eingeführt, von der Mutter instruiert: „Setz dich hier hin und warte, bis ich zurückkomme. Oder stell dich hin und sieh zu, was passiert.“ Hat Schauspieler und Regisseurin aus der Rolle fallen lassen, so dass sie vor der Bühne über ihre Rollen reflektieren und über die Funktion der Gewalt im Stück: „Jeden Abend Krieg begaffen, macht uns zu Hampelmännern.“ Genutzt hat es alles nichts. Da sitzt Titus auf der Bühne, seine geschändete, verstümmelte Tochter im Arm, und Shakespeare schlägt zurück. Entzieht sich jeder Form spätzivilisatorischer Zähmung und Interpretation. Die pure Gewalt, die reine Kraft herrscht auf der Bühne. Die Karten sind neu gemischt.

Gewalt im Theater: ein ewiges Thema. Was kann man zeigen, was will man sehen? Endlos diskutiert, bei dem finalen Fick mit dem Messer in Mark Ravenhills „Shoppen und Ficken“ zum Beispiel, bei Sarah Kanes oder Biljana Srbljanovics Blut- und Gewaltfantasien. Auch bei Shakespeares krudestem Drama „Titus Andronicus“ gehört die Gewaltdiskussion zum Frühstücksbesteck. Kinderköpfe, die rollen, eine junge Frau, die brutal zugerichtet wird – kein anderer Shakespeare ist so direkt, so ungeniert brutal. Und wahr ist: Natürlich gehört eine gehörige Portion Voyeurismus dazu, zuzusehen, wie diese junge Frau Lavinia (Christina Drechsler) von ihren beiden Vergewaltigern gequält, gefesselt, entkleidet wird, wie sie sie am Zopf zu Boden zerren, wie sie blutig und nackt einmal aus dem Graben kriecht, zurückgezerrt wird, noch einmal versucht zu fliehen, um schließlich, der Mund ohne Zunge eine blutige Höhle, die abgeschnittenen Arme in Konservenbüchsen endend, wimmernd und gurgelnd in der Ecke liegt. Spät, unerträglich spät, blendet Regisseur Thomas Langhoff ab über der Szene.

Botho Strauß, der den „Titus“ in seiner Bearbeitung „Die Schändung“ klug zusammenkürzt – da sind einige rollende Kinderköpfe, einige gemetzelte Söhne auf der Strecke geblieben – setzt ganz auf Lavinia als Hauptfigur. Und macht deutlich, dass Gewaltfantasien keine blutige Vorvergangenheit sind: Da sitzt in einer neu hinzugedachten Szene eine Probandin auf dem Stuhl, peinlich befragt von einem Psychologen. Bilder werden ihr gezeigt, von schlimmsten Gräueln, Erniedrigung und Vergewaltigung. Sie erkennt sich selbst in den Szenen, die ihren nächtlichen Fantasien entsprungen sind.

Die Botschaft ist klar – und doch bleibt sie Botschaft. Bleibt schwache Distanzierung von einem Geschehen, das mit seiner Wucht jegliche Skrupel von der Bühne fegt. Es ist Regisseur Thomas Langhoff, der die Regie der deutschsprachigen Uraufführung am Berliner Ensemble nach Scheitern des Hausherrn Claus Peymann übernahm, nicht zu verdenken, dass er mehr Shakespeare inszeniert als Strauß: ein wuchtiges Stück auf roher Bretterbühne, die üblichen schwarzen Ledermäntel, zwar viel Gehampel und Getrampel am Anfang, Star-Wars-Zitate und Immobilienvermittler, doch dann kommt er zu einer starken Konzentration, die sich Zeit lässt für ihre Bilder. Archaische Bilder, archaische Themen, gegen die Strauß’ neuzeitliche Einwürfe blass und papiern wirken. „Ich wollte nicht auf dem coolen Weg durch den Titus“, hat Strauß die „Regisseurin“ erklären lassen. Langhoff nimmt sie wörtlich.

Strauß, der bei der Pariser Uraufführung selbst Regie führte, ist nicht der Erste, der sich am Thema abarbeitet. Schon Heiner Müller hatte in „Anatomie Titus Fall of Rome“ aus dem Stoff eine Kriegserklärung der Dritten an die Erste Welt gemacht, ein Manifest, und doch das große Schlachten. Roberto Ciulli hatte sich in Mülheim an den Stoff gewagt, der junge Peter Brook vor Jahrzehnten. Auch bei Strauß spielt das Thema Weltpolitik eine Rolle, in dem Bild einer Alten Welt Rom (Europa), die belagert wird von unzivilisierten Horden aus dem Osten. In der Vorstellung von einer fester Staatsordnung, die umgestoßen wird. Barbaren sind sie alle, Römer wie Goten, und jede Form von Zivilisation nur dünner Mantel des Schlächters. Machtmenschen sind sie alle, selbst Lavinia intrigiert zu Beginn, um den Vater zum Kaiser zu machen. Alle hängen sie ihr Mäntelchen in den Wind, auch wenn der nach brennendem Menschenfleisch riecht.

Und doch ist alle Zivilisationskritik sehr schnell vergessen. Selbst in der grausamsten Szene ist das Strauß’sche Drama eher privat als politisch, eher ein großer Familienzwist als Staatspolitik. Die Gotenkönigin Tamora (Sylvie Rohrer als schmale, blonde, beherrschte Intrigantin) stachelt die Söhne an, weil Grausamkeit sie geil macht, und ihren Liebhaber Aaron (Markus John) dazu. Der unbedarfte Kaiser Saturnin (Veit Schubert) will Sex und Macht und möglichst wenig Stress. Titus ist weniger Feldherr als autoritärer Erzieher. Und Lavinia seine pubertäre Tochter, deren Sprachlosigkeit sie den Ermahnungen des Vaters entzieht.

Was da zwischen dem außerordentlichen Schauspielerpaar Jürgen Holtz und Christina Drechsler verhandelt wird, sind Gehorsam und Widerstand, Opfer und Lebenslust, Liebe und Rache. Schon in der Schlüsselszene, der Begegnung des Vaters mit seiner verstümmelten Tochter, steht hinter allem Grauen Lavinias unbeugsamer Mädchenstolz. Schützend hat der Vater sie in den Arm genommen, ein zweiter Lear mit seiner verletzten Cordelia, fast wahnsinnig vor Schmerz, und sinnt doch auf Rache. Und sie, ohne Zunge grässlich schnalzend, entzieht sich der väterlichen Sorge mit einem leichten Kopfschütteln, mit einem Aufbäumen und Sich-wieder-Verkriechen, und wo er Opfer und Opferung sieht, weiß sie: Sie will leben.

Leben – und lieben. Die stärkste Umdeutung des Stückes hätte dem Abend zum Verhängnis werden können. Denn Lavinia, der Strauß eine Dolmetscherin Monika, einen „Tragemund“ (Sonia Grüntzig) an die Seite stellt, verliebt sich in ihren Schänder, sucht Lust und Befriedigung trotz ihrer Verstümmelung. Im Kern eine schwüle Altmännerfantasie, eine verquere Opfer-Täter-Verstrickung, und in Christina Drechslers Darstellung eine Selbstverständlichkeit. Denn die junge Frau, die mit silbernen Armprothesen am Tisch sitzt, ist kein Opfer, sie ist pubertierendes, erwachendes Kind, und die Schwärmerei für ihren Feind ist eine Romeo-und-Julia-Romanze. Ist Aufbegehren gegen den autoritären Vater, der sie bei Tisch ermahnt: Iss nicht zu viel. Ist Entdeckung der eigenen Sexualität, Emanzipation, gewollte Provokation. „Lavinia quält die Lust. Lavinia will leben“ schreibt sie in den Sand. Und wählt den Liebestod.

Es ist der Abend der großen Schauspieler, und vor allem ist es der Abend, die Rückkehr von Jürgen Holtz. Er ist Lear und Narr, Caesar und Macbeth zugleich, bulliger Krieger und Relikt einer anderen Zeit. Seine Beschwörung der Ordnung und Sitten kommt archaisch daher, und der schnelle Griff zum Dolch zeigt, dass ein Menschenleben nicht viel gilt in dieser Welt. Dass er am Schluss nach grausam kultiviertem Mahl mit seiner Feindin die zickige, neuzeitliche Emanze Monika zur Frau bekommt, ist eine Demütigung. Sie ist vorbei, die Zeit der (Theater-)Titanen.

Wieder am 31. 1. sowie am 4. und 15. 2.

Christina Tilmann

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