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"Höhere Gewalt" von Ruben Östlund: Kaltes Blau

Ausnahme als Zustand: Ruben Östlunds „Höhere Gewalt“ erzählt von einem schlimmen Skiurlaub - und wirft einen distanzierten Blick auf die Zwangsgemeinschaft Familie.

Richtig gemütlich kann es hier nicht werden: Mitten in den französischen Alpen liegt ein Retortendorf, bestehend aus Luxushotels und Appartementhäusern, das mit der Landschaft rein gar nichts zu tun hat. Deshalb stören die rund um das Tal aufgebauten Schneekanonen zur Ankurbelung des Wintertourismus auch nicht weiter, ebenso wenig wie die Lawinenzäune und die hysterisch blinkenden Anzeigetafeln, die über Schneeverhältnisse und Pistenmarkierungen Auskunft geben. Vielleicht will es dort ja auch niemand gemütlich haben. Vielmehr will man möglichst ohne Mühe zuerst auf die Skier und dann auf den Hang und dann wieder runter und erneut hinauf, solange es Licht- und Wetterverhältnisse erlauben – das ist auch bei der soeben aus Schweden eingetroffenen vierköpfigen Familie nicht anders.

„Höhere Gewalt“ ist ein Konzeptfilm – so durchgestylt, dass etwa die verschiedenen Blautöne der Ski-Unterwäsche, in der die Eltern Tomas (Johannes Kuhnke) und Ebba (Lisa Loven Kongsli) und die beiden Kinder auf dem riesigen Hotelbett herumlümmeln, wunderbar nicht nur miteinander, sondern auch mit der Zimmereinrichtung harmonieren, sogar mit dem verhangenen Himmel vor dem Fenster. Und die Stimmung der vier ist ohnehin von Anfang an blue, was bei der außerirdischen Anmutung des Ortes nicht erstaunlich ist. Scheußlich allerdings wird es, als während einer Mittagspause in fahler Sonne eine Lawine über die Terrasse hinwegzurollen droht, auf der sich die Touristen gerade zum Essen niedergelassen haben. Und während Vater Tomas ins Innere des Gebäudes hastet, wirft sich Mutter Ebba schützend über ihre Kinder.

Bevor er „Höhere Gewalt“ drehte, hat sich der schwedische Regisseur Ruben Östlund mit Schiffskatastrophen befasst. Dabei hat er gelernt, dass der alte Seefahrer-Kodex, nach dem Frauen und Kinder zuerst von Bord dürfen, längst außer Kraft gesetzt ist; Männer und erst recht Besatzungsmitglieder überleben tatsächlich deutlich häufiger. Das hängt damit zusammen, dass sie im Notfall rücksichtsloser und – im Falle der Crew – besser informiert sind. Diese Ergebnisse einer Studie der Universität von Uppsala 2012 überträgt Östlund auf die Bergwelt, mit der er als leidenschaftlicher Skifahrer und Regisseur von Skifilmen vertraut ist.

Ruben Östlunds distanzierter Blick

„Höhere Gewalt“ ist beinahe ein Lehrstück über Geschlechterrollen und deren Wandel im Postfeminismus, und dass Östlund bis zum Schluss nicht Partei ergreift, gehört zu den vielen Stärken dieses Films. Die Familie ist kein Hort der Geborgenheit, das signalisiert die Distanziertheit, mit der Östlund sie betrachtet. Eher scheint es sich um eine auf Gedeih und Verderb in einem – zwar luxuriösen, aber dann doch zu kleinen – Hotelappartement zusammengeschweißte Zwangsgemeinschaft zu handeln.

In einer eindrucksvollen Szene werfen die Kinder die Eltern aus dem Zimmer, und die haben keinen anderen Aufenthaltsort als die lange, sterile Galerie vor den Türen, wo sie von einem schlecht gelaunten Putzmann auf dem gegenüberliegenden Gang aufdringlich fixiert werden. Die Verlegenheit, die Tomas und Ebba voreinander und vor den Kindern empfinden, macht sie handlungsunfähig. Die um sie herum herrschende Leere und Künstlichkeit scheinen äußere Äquivalente ihrer inneren Zustände zu sein. Und während der Schnee unablässig vom Himmel fällt, donnern dennoch nachts die – offenbar wetterunabhängig arbeitenden – Schneekanonen.

„Höhere Gewalt“ ist für den Europäischen Filmpreis nominiert, der Mitte Dezember in Riga vergeben wird – und diese Nominierung verdankt er vielleicht der Tatsache, dass er mit seinen langen, starren Kameraeinstellungen, der tristen Farbgebung und dem bizarren Schauplatz einige Anforderungen an sein Publikum stellt. Dabei ist der Film nicht nur ästhetisch, sondern auch moralisch anspruchsvoll. Es schadet keineswegs, sich so etwas zuzumuten.Cinemaxx, FaF, Kant, Yorck; OmU: fsk

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