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Hör BÜCHER: Rausch und Erfahrung

Hörern, denen der Sinn nach einem Ausnahmezustand des Geistes steht und die womöglich, anstatt sinnlos durch die Gänge der Drogerie-Discounter zu streifen, lieber gleich zu richtigen Drogen greifen, sei ein Hörstück nach Charles Baudelaire ans Herz gelegt: „Die künstlichen Paradiese“ (Hörbuch Hamburg, 2011). Regisseur Kai Grehn, mit den Welten von William Blake und Hans Henny Jahnn bereits vertraut, hat ein internationales Ensemble aus exzellenten Schauspielern und Musikern zusammengetrommelt, das Baudelaire höchst eigenwillig interpretiert.

Hörern, denen der Sinn nach einem Ausnahmezustand des Geistes steht und die womöglich, anstatt sinnlos durch die Gänge der Drogerie-Discounter zu streifen, lieber gleich zu richtigen Drogen greifen, sei ein Hörstück nach Charles Baudelaire ans Herz gelegt: „Die künstlichen Paradiese“ (Hörbuch Hamburg, 2011). Regisseur Kai Grehn, mit den Welten von William Blake und Hans Henny Jahnn bereits vertraut, hat ein internationales Ensemble aus exzellenten Schauspielern und Musikern zusammengetrommelt, das Baudelaire höchst eigenwillig interpretiert. Alexander Fehling fällt die nicht ganz leichte Aufgabe zu, die disparaten Stücke mit einer Lesung aus dem pharmakologisch-poetologischen Essay „Die künstlichen Paradiese“ zu verbinden. Das funktioniert mal besser, etwa wenn er auf die wild aufspielenden Roma-Musiker des Original Kocani Orkestar trifft, mal weniger gut, wenn er zu sehr den Bekifften gibt, seinen Text zu nah am Mikrofon raunt und gleich danach die wunderbar psychedelisch abgedrehte Band Mariahilff mit ihren irren Sphärenklängen auftritt; da fehlt dann der Kontrast. Insgesamt aber: absolut hörenswert.

Man kann erstaunliche musikalische Entdeckungen machen (den armenischen Duduk-Spieler Gevorg Dabaghyan!), hört die großartige Jule Böwe und staunt nicht schlecht, wenn die französische Kratzbürstenstimme, die Baudelaires „Enivrez-vous“ (Berauscht euch!) rezitiert, der weltberühmten Jeanne Moreau gehören soll.

Dass Matthias Politycki, vom edlen Literaten-Jahrgang ’55, zu den deutschen Dichtern gehört, die wirklich Geschmack haben, hat er schon oft genug bewiesen. Neulich begab sich dieser Weltreisende und Feldforscher auf hochgefährliche Mission nach England – auch er diesmal in Rauschangelegenheiten unterwegs. Der Forschungsbericht von seiner „Expedition ins Bierreich“ firmiert unter dem Titel: „London für Helden. The Ale Trail“ (Kunstmann, 2011). Dieser Reiseführer ist alles andere als eine trockene Aufzählung kultureller Sehenswürdigkeiten, dem klassischen Studiosus-Reisenden würde ich ihn daher eher nicht empfehlen. Eine Nacht lang geht es über 14 Stationen durch die Pubs der Stadt.

Wir begleiten Politycki durch alle Ups and Downs oder, um mit MP himself zu sprechen: „Hoch die Tassen! Und dann aber auch schnell runter damit!“ Am Ende dieser denkwürdigen Nacht stehen drei Monde über Soho, und die Fliehkräfte auf dem Barhocker haben auf unheimliche Weise zugenommen.

Kein Wunder! Man erfährt Bedenkliches darüber, was die Insulaner so alles in ihr Bier und dann in sich selbst hineinkippen. Manch eines dieser Getränke erweist sich als regelrechtes „Stinktierbier“. Andere schmecken nach feuchtem Feudel, wie der tapfere Abgesandte aus dem Stammland des Reinheitsgebotes – zwischenzeitlich ernüchtert – konstatieren muss. Peter Lohmeyer widersteht als Sprecher dieses Poems konsequent der allzu banalen Versuchung zu lallen. Er macht das viel raffinierter. Er spricht kontrolliert, so wie ein Betrunkener, der panisch genau darauf achtet, immer auf der unsichtbaren Geradeauslinie zu bleiben. Ein schönes Kunststück!

Ich berausche mich derzeit vor allem am großen Familienliederbuch „Schläft ein Lied in allen Dingen“ aus dem zauberhaften Berliner Tulipan Verlag. Das Besondere an diesem besonders schönen, von Ute Krause illustrierten Buch: Es liegt eine CD bei. Die Hörbuchversion produziert man als Karaoke-Sänger also selbst! Weil wir gerade noch in London waren: Man schlägt im Buch S. 82 auf, wo Brechts Mackie-Messer-Text zu lesen ist, wählt auf der CD Track 14 mit der Instrumentalversion von Weills Song, und los geht’s.

Ich habe es, als meine Nachbarschaft auf Arbeit war, probiert. Es funktioniert! Dieses Gesamtkunstwerk möchte man nicht wieder aus der Hand legen. Auch mein Wohnungsnachbar kann anscheinend gar nicht genug davon bekommen. Das wurde mir gestern Nacht um halb eins klar, als ich wieder einmal sangesfreudig mit dieser kostbaren Silberscheibe zugange war, er seine Begeisterung nicht mehr zügeln konnte und mit beiden Fäusten heftigen Applaus gegen die Wand trommelte.

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