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Kultur: Hör dein Hirn

Das weiße Blatt Papier an der Wand scheint sacht zu schnarren.Straff auf einen schlichten Keilrahmen aufgespannt, sieht man ihm keine Bewegung an.

Das weiße Blatt Papier an der Wand scheint sacht zu schnarren.Straff auf einen schlichten Keilrahmen aufgespannt, sieht man ihm keine Bewegung an.Und doch, nähert sich der Betrachter dem Objekt, wird das Schnarren präsenter, und er vernimmt einen leisen, tiefen Sinuston, der aus einem kleinen Lautsprecher hinter dem Papier dringt.

In der SFB-Klanggalerie hängen derzeit sechs solcher klingenden Papiere."Sound on Paper" nennt Alvin Lucier seine 1985 entstandene Arbeit, in der Papiere von unterschiedlichem Format, verschiedener Dichte und Qualität durch die gleiche Sinusfrequenz zum Schwingen angeregt werden und jeweils charakteristisches Rauschen oder Schnarren erzeugen.Das Verfahren, einfache Primärklänge in mitunter an physikalische Versuche erinnernden Anordnungen in komplexe Sekundärklänge zu überführen, hat Lucier seit den sechziger Jahren immer wieder verfolgt.Der Amerikaner, der zu den bedeutendsten lebenden Komponisten zählt, verließ unter dem Einfluß Cages früh die Pfade jener neoklassizistischen Musik, die er bei Irving Fine und Aaron Copland studiert hatte.

Der experimentelle Umgang mit live-elektronischem Instrumentarium - Lucier gründete 1966 zusammen mit Robert Ashley, David Behrman und Gordon Mumma die legendäre "Sonic Arts Union" - führte ihn bald zur kompositorischen Anverwandlung akustischer Gesetzmäßigkeiten

Ein Beispiel dafür ist der Gebrauch von Hirnströmen zur Steuerung eines Perkussionsensembles.Schon 1965 verstärkte Alvin Lucier in "Music for Solo Performer" die Alphawellen seines Gehirns.Da deren Frequenz bei zehn bis vierzehn Hertz und damit unterhalb der Flimmergrenze des Gehörs liegen, nutzte er diese Impulse, um im Raum verteilte Schlaginstrumente zum Schwingen zu bringen.In dem Eröffnungskonzert des Lucier gewidmeten Festivals "Resonanzen" in der Berliner Parochialkirche steuerte dessen Schüler Nicolas Collins mit dem Monosignal der vom Komponisten live erzeugten Alphawellen vierzehn Instrumente an und führte den Klang von Trommel und Kesselpauke über Tamtam und Becken verschiedener Größe in die Höhe zu Snare-Drum, Triangel und Schellenkranz.Zwei beschleunigt abgespielte Aufzeichnungen von Alphawellen etablierten ein die stotternden Rhythmen kontrastierendes Klangband, und Collins gelang eine wunderbare Fassung mit viel Sinn für Transparenz.

Ebenfalls mit Resonanzklängen, diesmal jedoch rein akustisch erzeugten, arbeitet "Islands", das das Ensemble United Berlin vor wenigen Wochen im Konzerthaus uraufführte.Für die Wiederholung in der Parochialkirche nahmen fünf Bläser der Gruppe auf der Bühne Platz und spielten ein im Verlauf einer Viertelstunde langsam aufsteigendes Glissando.Nicht unisono, sondern in achteltöniger Überlagerung erzeugten sie oft bruchhaft wechselnde, durch Obertonschwebungen gebildete Interferenzklänge, die fünf im Raum verteilte Snare-Drums zum Schwingen anregten.

Aus Luciers grafischem Werk zeigt die Galerie Gelbe Musik derzeit die achtteilige Serie "Still Lives" (1995), in der sich Alltagsgegenstände in einfachen Umrißzeichnungen abgebildet finden.Da erscheinen der Kegelstumpf eines Lampenschirms ("Lamp Shape"), ein rautenförmiger Lichtfleck ("Sunlight Diamond") und die dreieckig gezackte Klinge eines Brotmessers ("Bread Knife").In den gleichnamigen Klavierstücken folgen Sinusgeneratoren diesen Formen und bilden zwei- bis dreistimmige Glissandi, die zusammen mit den langsam gesetzten Instrumentalakkorden variierende Schwebungsklänge bilden.Dabei bleiben die Proportionen der Zeichnungen gewahrt: eine Zacke des Brotmessers mißt eine große Terz, der Lichtfleck ist hingegen drei Oktaven hoch.Daß Lucier, der 1990 als Stipendiat des DAAD in Berlin lebte, zu seinem gestrigen 68.Geburtstag mit einer solchen Fülle von Konzerten und Ausstellungen geehrt wird, ist das Verdienst der Hörgalerie Singuhr.Sie eröffnet ihre vierte Saison mit der Installation "Empty Vessels" (1997), die die Resonanzklänge von acht in Brusthöhe aufgestellten Glasgefäßen hörbar macht.Von spektakulärem Ausmaß ist die neue Arbeit "Twins", eine Doppelfassung von "Music on a Long Thin Wire" (1977), in der die Schwingungen zweier quer durch die Parochialkirche gespannter Drähte hörbar gemacht werden.Es entsteht ein ständig changierendes Klanggewebe, mit dem Lucier den Hörer in glücklicher Verantwortungslosigkeit sich selbst überläßt.

Uraufführungskonzert heute, 20.30 Uhr, Parochialkirche.Klanginstallation "Sound on Paper" und Dokumentationsausstellung bis 28.5.im Haus des Rundfunks, Masurenallee 8-14, werktags 10 - 17 Uhr.Ausstellung "Still Lives" bis 12.6.in der Galerie Gelbe Musik, Schaperstraße 11, Dienstag bis Freitag 13-18 Uhr und Sonnabend 11-14 Uhr.Klanginstallationen "Twins" und "Empty Vessels" bis 13.6.in der Parochialkirche, Klosterstraße 67, Donnerstag bis Sonntag 14-20 Uhr

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