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Kultur: Hohelied der Hoffnung - der Nachrichtenerfinder Jakob gibt den Menschen im Ghetto neuen Lebensmut

Jurek Becker wurde 1937 in Lodz geboren. Seine Kindheit verbrachte er da, wo es unmöglich ist, eine zu haben.

Jurek Becker wurde 1937 in Lodz geboren. Seine Kindheit verbrachte er da, wo es unmöglich ist, eine zu haben. Im Ghetto und in Konzentrationslagern. Er überlebte. Er hatte also viel nachzuholen. Vor allem die Kindheit. Normale Menschen werden irgendwann erwachsen. Andere, die noch eine Kindheit nachzuholen haben oder sie nie ganz loswerden, nennt man Künstler. Also solche wie Jurek Becker, der sich eine Kindheit im Ghetto erfand. Und Jakob dazu. Den nie ganz erwachsengewordenen Erwachsenen. Den Lügner. Oder gab es ihn wirklich? Mit dieser Ungewissheit fing der DEFA-Film "Jakob der Lügner" von Frank Beyer an. Mit dem Eingeständnis, dass nichts so war, wie hier gezeigt. Mit der Frage ein paar Bilder später: Oder doch? Ja, ganz sicher wird es so gewesen sein. Richtig wirkliche Wirklichkeiten erkennt man immer an ihrer Unwirklichkeit. Einfache Dialektik der Kunst.

Natürlich gab es ein Leben im Ghetto oder im KZ, wie hätte man sonst wohl überleben können? Roberto Benigini verallgemeinerte diese Ansicht kürzlich zu der Aussage: "Das Leben ist schön". Seiner Geschichte merkt man die Mühe an, die es bereitete, sie zu erfinden. So spürt man manchmal die Brüche, wenn das Unwirkliche abstürzt ins Triviale. Beckers Geschichte hat diese Brüche nicht. Und war schon 1969 fertig. Etwas später auch der Film. 1974 bekam er den Silbernen Bären auf der Berlinale und zwei Jahre später sogar eine Oscar-Nominierung.

1990 las der Regisseur Peter Kassovitz die Geschichte vom Ghetto, in dem Bäume und Radios verboten sind, was so recht keiner versteht, denn Bäume sind doch keine Juden. Und Kassovitz, der ungarische Jude, der schon lange in Paris lebte, mochte Jakob, den Pufferbäcker sofort. Jakob, der abends im Ghetto spazierengeht, obwohl das Spazierengehen im Ghetto auch verboten ist. Vor allem nach Acht. Meine Uhr haben die Deutschen!, weiß Jakob und geht weiter. Und geht zu weit. Und muss sich beim Ghetto-Kommandanten melden. Da ist es erst halb acht. Aber wie spät es ist, bestimmen jetzt die Deutschen. Das hatte Jakob vergessen. Vergessen hatte er auch, wie ein Radio klingt. Und dann hört er - 1944 in einer deutschen Gestapo-Baracke - das Unglaubliche: Die Russen stehen zwanzig Kilometer vor Besanica! Also beinahe, nun gut, nicht ganz, aber sozusagen fast vorm Ghetto.

Kassovitz fragte sich natürlich auch gleich: Wer könnte dieser Jakob sein? Robin Williams muss das machen, fand er. Williams fand das auch. Oder wer sonst könnte den Witz als höchsten Ernst spielen und den Ernst als höchsten Witz - das Absurde schlechthin? Eben einen Pufferbäcker aus Lodz, der plötzlich zum Nachrichtenerfinder für ein ganzes Ghetto wird. Denn damit hatte Jakob auch nicht gerechnet. Dass jeder wissen will, wie es weitergeht. Wo stehen die Russen heute? Und morgen?

Denn Jakob konnte doch unmöglich sagen, er sei in der Gestapo-Baracke gewesen und habe dort ein wenig Nachrichten gehört. Schon wer da lebendig wieder rauskommt, ist der nicht - ein Spitzel? Also sagt Jakob , dass er ein Radio hat. Hört ein Radio etwa auf zu senden? Eine Nachricht allein ist nie genug. Jeder Journalist weiß das. Journalisten sind im Ghetto auch verboten, genau wie Radios und Bäume. Jakob revolutioniert fortan das Berufsbild des Journalisten. Nur erfundene Nachrichten sind gute Nachrichten!

Kassovitz und Williams fuhren nach Polen und Ungarn. Sie machten alles - nicht wirklich anders - nur viel düsterer als Frank Beyer. Realistischer, wie sie sagen. Jede Einzelheit des Ghettos belegt von Fotos und Archivmaterial. Beyer hatte eher bürgerliche Wohnzimmer im Ausnahmezustand gefilmt. Mit einer Mauer rund um die Häuser. Das war kaum Harmlosigkeit, es entsprach vielmehr Beckers Zug ins Groteske, ins Imaginäre. Und dem Blick des Kindes, das Becker einmal war. Er sah das Ghetto kaum so wie ein Amerikaner und ein ungarischer Franzose von heute. Warum um das Subjektive des Sehens betrügen, aus dem doch zuletzt auch das Lebenkönnen kommt?

"Jakob der Lügner" ist ein Hohelied der Hoffnung. Und zugleich eine entschiedene Korrektur an der Gattung des Hohelieds. Eins, das sich abgrundtief durchschaut. Denn ist es nicht ein metaphysisches Unglück, ohne Hoffnung gar nicht leben zu können? Erst das macht Menschen wirklich quälbar - und darin, mag sein, menschlich. Die Hoffnung ist sicher kein Prinzip, wie noch nach 1945 ein großer jüdischer Philosoph meinte. Vielleicht ist sie sogar eine Lüge. Und Beckers Buch eigentlich ein Hohelied auf die Lüge. Die Lüge aber unterhält allzeit ein sehr gespanntes Verhältnis zum Realismus. Vielleicht ist deshalb ist Beyers Film Jurek Becker doch ein Spur näher. Und dem Tschechen Vlastimil Brodsky glaubte man seinen Jakob so unmittelbar - bei Williams dauert das doch schon etwas länger. Auch stand Brodskys Sprödigkeit niemals wie Williams an der Schwelle zum Sentimentalen. Immerhin, er hat sie nicht überschritten wie vorher in dem kinematographischen Leben-und-Suchen-im-Jenseits-Verbrechen "Land hinter dem Horizont".

Einer aber tritt in beiden Filmen auf. Armin Mueller-Stahl. Bei Beyer war er das Oberhaupt jener frommen Juden, die der Ansicht sind, dass Gott schon wisse, was er tue und man ihn nicht mit illegalen Radios aus dem Konzept bringen sollte. Jetzt ist Mueller-Stahl Dr. Kirschbaum, eine Rolle, die viel größere Statur gewinnt. Er ist der einzige, der Jakobs Radio sofort durchschaut. Als Erfindung. Als geniale Erfindung. Keine Selbstmorde mehr im Ghetto. Weiter so, Jakob!In Berlin in den Cinemaxxen Colosseum und Potsdamer Platz und in den Kinos Eiszeit, Filmkunst 66, Filmbühne Wien, Kosmos und Zoo Palast

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