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Die Musikerin Holly Herndon, 35.

© Beggars

Holly Herndon live in Berlin: Achtung, Cyborg-Angriff

Aufregend neu: Holly Herndon stellte ihre abstrakte Knirschelekronik im ausverkauften Berliner Berghain vor.

Der Bass ist mächtig und pumpt repetitiv im Berghain-Modus. Zumindest immer mal wieder. Das sind die Momente, in denen sich das Publikum im übervollen Berghain auf gewohntem Terrain wähnt und sich zaghaft tanzartig bewegt. Aber nicht zu sehr, denn gleichzeitig fragt man sich: Was bitte ist das eigentlich für eine Musik, die Holly Herndon da aus ihrem Laptop hervorzaubert, hinter dem sie sich den ganzen Abend lang versteckt?

In den letzten Jahren kam es nicht oft vor, dass ein popkulturelles Phänomen auftauchte, das wirklich neu und unerhört klang. Die irre Tanzmusik Juke aus Chicago war so etwas und manche Klangexkursion aus dem Dubstep-Bereich. Und jetzt eben: Holly Herndon aus San Francisco. Ihre neue Platte „Platform“, die Dritte, ist der Aufreger der Saison. Extrem verwinkelte Knirschelektronik hört man hier und dazu die Stimme der 35-Jährigen, die tausendfach gefiltert wurde und nur eine Erkenntnis zulässt: Herndon muss ein Cyborg sein. Würde Samantha, das Computersystem aus Spike Jonzes Film „Her“ Musik machen, sie würde vielleicht so klingen wie die auf „Platform“. Der Sound wirkt ein wenig spröde und ausgedacht, aber auch faszinierend.

Holly Herndon versucht, Clubmusik wieder zu intellektualisieren. Für ihr Album hat sie mit Hackern und Queer-Aktivisten aus aller Welt zusammengearbeitet. Auf „Platform“ geht es unter anderem um Überwachung und die NSA. So tritt beim Konzert im Tempel des Party-Hedonismus irgendwann ein Typ mit einem „Fuck NSA“-T-Shirt ans Mikrofon und hält eine flammende Rede gegen Überwachung. Und an der Bar werden T-Shirts mit dem Konterfei von Chelesa Manning verkauft, der amerikanischen Whistleblowerin, die noch Jahre lang in einem US- Gefängnis schmoren wird.

Holly Herndon könnte die nächste Björk werden

Holly Herndon bietet keine Show und hat nur ein paar Visuals mitgebracht. Die meiste Zeit scheint sie damit beschäftigt zu sein, ihre Stimme von der richtigen Software zerhacken zu lassen. Aber das reicht, um beim Publikum den Eindruck zu erwecken, etwas wirklich Neuem beizuwohnen. Hyperabstrakte elektronische Musik, ganz im Hier und Jetzt, mit theoretischem Überbau. Es scheint, als hätte die Welt tatsächlich auf so etwas gewartet. Die Politisierung von elektronischer Musik haben zwar schon andere vorangetrieben, etwa der Queer-Aktivist Terre Thaemlitz, aber das fand meist schlecht beleuchteten Nischen der Popkultur statt. Holly Herndon jedoch hebt ab, die nächste Björk zu werden, eine Laptop- Björk, und ihre Botschaft erreicht, wenn das mit ihrem Erfolg so weitergeht, demnächst vielleicht sogar Barack Obama.

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