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Hollywood in Neukölln: Praxis Hänselstraße

Zwei Berliner dffb-Studenten drehen ihren Abschlussfilm. Der amerikanische Filmstar Amanda Plummer flog in die Hauptstadt, um für die jungen Filmemacher vor der Kamera zu stehen.

Märchenhafter als diese Straßenecke könnte ein Ort gar nicht sein. Auf dem einen Schild steht Hänsel-, auf dem anderen Gretelstraße, dahinter eine saftige Wiese, über die Landgefühle wehen, und das mitten in Berlin-Neukölln. Wenn das möglich ist, Hänsel und Gretel zusammen im härtesten Bezirk der Hauptstadt, dann kann alles geschehen. Auch dass ein Filmstar aus Amerika geflogen kommt, um ohne Gage in einem Abschlussfilm von Berliner Studenten mitzuspielen. Und so steht Amanda Plummer, vielen als psychotische Killerin Honey Bunny aus Quentin Tarantinos „Pulp Fiction“ bekannt, an diesem Tag Hänsel-/Ecke Gretelstraße und bespricht mit Linus de Paoli, Regiestudent an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb), die nächste Szene seines Films.

Der Filmstoff selbst ist alles andere als märchenhaft. „Dr. Ketel“, so der Name des Films, spielt in einer Zeit, in der das Gesundheitssystem in Berlin gänzlich zusammengebrochen ist. In Neukölln kümmert sich nur noch ein Mann namens Ketel um die Kranken, er tut dies heimlich, weil er gar keine Zulassung hat, verlangt aber auch kein Geld. Irgendwann ist er selbst zu erschöpft, um anderen noch zu helfen, doch dann tritt die rätselhafte Louise, deren Rolle Amanda Plummer spielt, wie ein Engel in sein Leben. Und dabei sind Ähnlichkeiten mit lebenden Personen ausnahmsweise einmal ausdrücklich erwünscht: „Louise ist eine Chiffre für Amanda“, sagt Linus de Paoli. „Sie ist auch unser guter Engel gewesen.“

Um das zu verstehen, muss man sich vor Augen führen, wie es jungen Filmemachern ergeht, die sich nicht beim Fernsehen verdingen wollen und von der großen Leinwand träumen. Mit wenig Geld drehen sie Filme, die kaum einer außer ihnen jemals sieht, ungeachtet der Qualität. Mit ihnen tingeln sie von Festival zu Festival, in der Hoffnung, irgendwo Beachtung zu finden.

So war Linus de Paoli mit seinem Kurzfilm „The boy who wouldn’t kill“ im vergangenen Jahr beim Filmfestival im spanischen Sitges. Mit dabei war Anna de Paoli, seine Freundin, die ebenfalls an der dffb studiert und seine Filme produziert. Die beiden haben sich den Künstlernamen de Paoli gegeben. Amanda Plummer saß in der Jury. Zehn Tage sahen die Studenten die Schauspielerin an der Bar und am Pool, trauten sich aber nicht, sie anzusprechen. Am letzten Tag des Festivals lief „The boy who wouldn’t kill“, sie bekamen eine lobende Erwähnung, die sie, wie sie erfuhren, Amanda Plummer zu verdanken hatten. Sie habe den Film über alles gelobt, sagte ein Jurymitglied ihnen. Und so trauten sie sich bei der Abschlussparty doch zu der Schauspielerin, diese war so herzlich, lobte den Film so überschwänglich, dass sie die Party ganz verwirrt verließen – und erst auf dem Weg merkten, dass sie den Bus verpasst hatten und zwei Stunden zu ihrer Unterkunft zurücklaufen mussten.

An eins erinnerten sie sich jedoch: Plummer hatte ihnen versichert, dass sie in ihrem nächsten Film gern mitspielen würde. Und als sie ihr das Drehbuch dann schickten, bekamen sie eine E-Mail, die nur aus wenigen Zeilen bestand. „Ich bin eure Louise“, schrieb Amanda Plummer. Und: „Ich brenne darauf anzufangen.“

Tatsächlich könnte man sich kaum jemanden denken, der besser für die Rolle der Louise geeignet wäre. Die 1957 geborene Plummer wirkt wie nicht ganz von dieser Welt. Bei der Kostümprobe am Potsdamer Platz sitzt sie in der Pause auf der Terrasse und summt vor sich hin, selbstvergessen und fragil wie ein Vögelchen. Stets spielte sie in Filmen Personen, die ein bisschen aus dem Leben gefallen sind, wie die schüchterne Büroangestellte in Terry Gilliams „König der Fischer“. Dass sie nun jemanden gibt, der einem anderen zurück ins Leben hilft, erklärt vielleicht, warum diese Rolle so reizvoll für sie war. Sie selbst sagt nur, Linus de Paoli sei so genial, dass sie entzückt sei, mit ihm zu arbeiten. Über die finanzielle Seite will sie lieber nicht reden. Doch wahrscheinlich erhält sie ansonsten eine Gage, die weit höher ist als das Gesamtbudget von „Dr. Ketel“.

Vielleicht liegt deshalb über den ersten Treffen von Studenten und Star die Atmosphäre eines ersten Rendezvous. Wird alles gut gehen, das ist die unausgesprochene Frage. Und: Gefällt es ihr auch? Denn manchmal haben auch Engel einen sehr eigenen Kopf. So bringt Amanda Plummer zu jedem Dreh zwei Kissen mit, eins groß, eins klein. Wann welches eingesetzt wird, hat bislang noch niemand so recht verstanden, aber wenn die Kissen nicht zur Hand sind, wird Plummer mit einem Mal sehr bestimmt. Auch hat sie genaue Vorstellungen, was ihre Figur angeht. Nach der ersten Anprobe fährt die Kostümbildnerin noch einmal los, die Kleider haben Plummer nicht gefallen, zu streng seien sie ihr, sie wolle fließende Stoffe. Und beim Dreh auf der Hänselstraße trägt ihr die Regieassistentin erfolglos einen blauen Schal hinterher, Amanda bindet sich stattdessen einen grauen mit schwarzen Punkten um, Diskussion zwecklos.

Da ist es günstig, dass Filmstudenten es ohnehin gewöhnt sind zu improvisieren. Keiner der Beteiligten hat zuvor an einem langem Film mitgearbeitet, die Kosten für Amanda Plummers Flug übernahm am Ende die Tante des Regisseurs, Plummers Betreuerin, eine BWL-Studentin aus Mannheim, sprang im letzten Moment ab. Deshalb holt Anna de Paoli Amanda Plummer jetzt jeden Morgen selbst vom Hotel ab. Und als die Schauspielerin klagt, dass es in ihrem Hotelzimmer nicht genug Steckdosen gebe, bringt die Produzentin ihr eine Mehrfachsteckdose aus der eigenen Wohnung.

Auch diese befindet sich in Neukölln, de Paoli ist hier aufgewachsen. Nicht nur deshalb ist „Dr. Ketel“ so etwas wie ein Heimatfilm: Anna de Paolis Vater war dreißig Jahre Arzt in Neukölln, er wohnte direkt neben seiner Praxis, und außerhalb der Öffnungszeiten klingelten die Patienten bei ihm zu Hause. In Rente zu gehen, damit zögerte der Arzt trotz großer Erschöpfung lange. Er hatte Sorge, dass niemand seine Arbeit fortführen würde. Tatsächlich hat sich kein Nachfolger gefunden, inzwischen leben und arbeiten Anna und Linus de Paoli in den ehemaligen Praxisräumen. Manchmal klingeln alte Patienten des Vaters nun an ihrer Tür.

Die Not der Kranken, aber auch der Burnout eines Menschen, der in einem Helferberuf arbeitet, das könnte Stoff für einen harten, realistischen Film sein. Linus de Paoli hat sich für ein Experiment entschieden. „Dr. Ketel“ wird in Schwarz-Weiß gedreht und soll ein Film noir sein. Nur muss kein Mord geschehen, damit die Welt schlecht ist, sie ist es auch so. „Neukölln gibt einem das Gefühl, dass etwas nicht stimmt“, sagt der Regisseur. „Die Menschen hier sind gut, und trotzdem geht es ihnen schlecht.“

Tatsächlich haben in den vergangenen Jahren zahlreiche Ärzte ihre Praxen in Neukölln aufgegeben, um sich in Bezirken wie Charlottenburg oder Steglitz niederzulassen. Die Flucht ist die Folge einer Neuregelung aus dem Jahr 2003, die es den Neuköllner Ärzten erlaubt hat, mit der ursprünglich nur für das Viertel geltenden kassenärztlichen Zulassung überall in Berlin zu praktizieren. Seither sind die verbliebenen Praxen noch voller und die Wartezeiten länger. Vielleicht ist es also die traurige Wahrheit, dass es im Film für das Happy End ein märchenhaftes Element braucht, weil die Realität in Neukölln keine Lösungen bereithält.

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