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Den Großonkel Shmiel nannten sie König. Heute spielen Kinder auf dem jüdischen Friedhof von Bolechow in der Ukraine.

© Matt Mendelsohn

Holocaust: Der Triumph der Toten über die Täter

„Die Verlorenen“: Daniel Mendelsohn sucht nach sechs Holocaust-Opfern aus seiner Familie.

Die Toten sind noch nicht wirklich gestorben. So lange es Menschen gibt, die ihre Geschichten erzählen, bleiben sie lebendig. Das ist der Trost, der von dem Buch „Die Verlorenen“ ausgeht, mit dem sich Daniel Mendelsohn – so der Untertitel – auf „eine Suche nach sechs von sechs Millionen“ begibt. Diese Suche führt den Autor auf eine vierjährige Reise von New York in die Ukraine und über Australien nach Stockholm und Israel. Am Ende der Reise und des Buches stehen die sechs im Holocaust ermordeten Familienmitglieder, von denen er erzählt, nicht länger als Teil einer Zahlenkolonne, sondern als Menschen aus Fleisch und Blut vor dem Leser: Shmiel Jäger, der Bruder von Mendelsohns Großvater, seine Frau Ester und ihre Töchter Lorka, Frydka, Ruchele und Bronia. So handelt „Die Verlorenen“ auch von einem Triumph der Toten über die Täter. Die deutschen Mörder und ihre Helfershelfer hatten ihre jüdischen Opfer vernichten, im etymologischen Wortsinn „zu Nichts machen“ wollen, indem sie sie in Massengräbern verscharrten, ihre Synagogen verbrannten und Friedhöfe zerstörten. Aber sechs Millionen Menschen lassen sich nicht auslöschen, nicht einmal sechs. Dafür haben sie zu viele Spuren hinterlassen.

Mendelsohn versucht, noch die winzigsten Details zu erfahren, denn es sind, so glaubt er, „die kleinen Dinge, die die Toten wieder lebendig machen“. Details wie den Spitznamen Król, „König“, den die polnischen Nachbarn seinem Großonkel Shmiel gegeben hatten, weil der nicht nur ein erfolgreicher Fleischhändler, sondern auch ein angesehener Bürger war. Oder den jiddischen Satz „Sie war gewen a picaflor“, sie war ein Kolibri, mit dem eine ehemalige Freundin die Schönheit und das Selbstbewusstsein von dessen Tochter Frydka beschreibt. Aus solchen Mosaiksteinchen setzt sich das Porträt eines Menschen zusammen, doch bei vielen Fragen muss Mendelsohn passen. Selbst die Todesdaten der Protagonisten ließen sich nicht mehr ermitteln. Im Familienstammbaum, der dem Text vorangestellt ist, steht hinter drei Namen: „gest. 1943?“

Das Buch, das vor vier Jahren gleich nach seinem Erscheinen in den USA und Israel zum Bestseller wurde, ist eine auf über 600 Seiten ausgreifende Langreportage und zugleich ein Essay über das Nichtvergehen der Vergangenheit, vor allem aber ein mit Fakten gesättigter Familienroman. Es beginnt mit Erinnerungen an Familienfeiern im Miami Beach der 60er Jahre, wo die aus New York eingeflogenen Kinder die Wangen ihrer alten jüdischen Verwandten küssen mussten, die – es ist eine Szene wie von Philip Roth – „bei den Männern nach Keller und Haarwasser rochen und bei den Frauen ein diffuses Aroma von Gesichtspuder und Bratöl verströmten“. Einige Frauen fangen an zu weinen, wenn der kleine Daniel das Zimmer betritt: „Oh, er sieht Shmiel so ähnlich!“ Dieser Shmiel und die Seinen, so viel erfährt der Junge, seien während des Krieges „von den Nazis umgebracht worden“.

Bei Nachfragen stößt Mendelsohn auf eine Mauer des Schweigens. Selbst der geliebte, ansonsten gesprächige Großvater bittet ihn, nicht weiter mit Auskunftsgesuchen „über die Mischpoche“ behelligt zu werden, er sei „ein alter Mann“ und erinnere sich „an nichts mehr“. Doch als der Großvater stirbt, findet man in seiner Brieftasche die Briefe seines Bruders Shmiel, in denen er Ende 1939 in zunehmend panischen Ton darum bittet, ihm und seiner Familie mit Geld und Visa herauszuhelfen aus dem „ständigen Schreck“, zu dem Polen für die Juden geworden war. Es müssen Schuldgefühle gewesen sein, die den Großvater ins Schweigen trieben. Mendelsohn spekuliert über einen Verrat unter Brüdern, ein biblisches Kain-und-Abel-Drama. Viel später wird er erfahren, dass 1939 die Wartezeit für eine Ausreise nach Amerika bereits sechs Jahre betrug. Sechs Jahre später aber waren von den einstmals 6000 Juden des früher polnischen, dann sowjetischen, heute ukrainischen Städtchens Bolechow nur noch 48 am Leben.

Bolechow. Als Mendelsohn mit seinen Geschwistern im August 2001 zum ersten Mal den 10 000-Einwohner-Ort besucht, findet er ein verschlafenes Idyll, das ihn misstrauisch macht. Die Fremden werden von den Einheimischen freundlich bewirtet, eine alte Frau erzählt, Ukrainer und Polen hätten hier mit den seit 300 Jahren ansässigen Juden wie in „einer großen Familie“ zusammengelebt. Aber Mendelsohn weiß auch, dass viele Ukrainer der deutschen Wehrmacht 1941 beim Einmarsch zujubelten und manche von ihnen sich von Nachbarn zu Nazi-Handlangern verwandelten, die von ihren jüdischen Opfern „Schlächter“ genannt wurden.

Der Genozid geschah in Etappen. Im Oktober 1941 trieb die SS rund tausend Juden – darunter auch Ruchele Jäger – zusammen, sperrte sie in ein katholisches Gemeindehaus, folterte sie einen Tag lang und erschoss sie dann auf einem Feld am Stadtrand. Die Erde über dem Massengrab soll sich noch Tage später bewegt haben. Weitere zweitausend Juden wurden im September 1942 ins Vernichtungslager Belzec deportiert. Bis in den Herbst 1943 überlebten noch einige hundert Juden im Arbeitsdienst, danach konnten nur wenige sich verstecken oder zu den Partisanen in die Wälder fliehen.

Es gibt Passagen in diesem Buch, bei denen dem Leser der Atem stockt. Beklemmend sind die 20 Seiten, auf denen Mendelsohn seinen Großonkel, dessen Frau und eine Tochter auf ihre letze Reise nach Belzec begleitet, wo sie noch am Bahngleis aufgefordert werden, sich auszuziehen zur „Desinfektion“, vorbei an einem Schild mit der Aufschrift „Achtung! Vollständig entkleiden“ ein schwimmbadartiges Gebäude betreten und einen Raum mit „freundlichem, hellen Erscheinungsbild“ und Duschköpfen unter der Decke erreichen, die Gaskammer. „In diesem Raum“, schreibt Mendelsohn in einer Mischung aus Nüchternheit und Trauer, „mussten sie die vergiftete Luft einatmen, und nach einer Spanne von Minuten gingen ihre Leben zu Ende“.

Daniel Mendelsohn: Die Verlorenen. Eine Suche nach sechs von sechs Millionen. Deutsch von Eike Schönfeld. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010. 633 Seiten, 24,95 Euro.
Daniel Mendelsohn: Die Verlorenen. Eine Suche nach sechs von sechs Millionen. Deutsch von Eike Schönfeld. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010. 633 Seiten, 24,95 Euro.

© promo

Doch „Die Verlorenen“ ist auch ein Buch über die Momente des Glücks in katastrophischen, zutiefst unglücklichen Zeiten. Denn neben den Geschichten über die Toten aus seiner Familie sammelt Mendelsohn auch die Geschichten der Geschichtenerzähler. Es sind Geschichten vom Überleben in kümmerlichen Verstecken oder unter falscher Identität. Die Geschichte von Adam Kulberg wirkt, so Mendelsohn, gar wie „eine Erzählung aus einem Epos, einem griechischen Mythos“. An seinem 20. Geburtstag verlässt Kulberg Bolechow, wandert nach Osten, erreicht zu Fuß und per Anhalter das Kaspische Meer, durchquert die Wüste Karakum, stößt an die iranische Grenze und schließt sich einer polnischen Brigade der Roten Armee an, in der ihm ein Bekannter aus Bolechow über den Weg läuft. Er sieht sich nicht als Held: „Ich bin nicht der Einzige, tausende Juden haben in allen Armeen der Welt gekämpft.“

Ausgerechnet in Sydney, gleich neben einem Strand, der als Surferparadies gilt, trifft Mendelsohn fünf Überlebende. Nach dem Krieg hatten die mit dem Leben davongekommenen Juden aus Bolechow beschlossen, sich geografisch so weit wie möglich von Polen entfernt niederzulassen. Dort hört der Autor von einem unglaublichen Romeo-und-Julia-Liebesgeschichte. Frydka Jäger, seine schöne Großcousine, soll von einem polnischen Geliebten versteckt worden sein, der, als sie verraten wurden, sogar für sie gestorben sei. Von einem „kestl“ als Unterschlupf war in der Familie erzählt worden, Mendelsohn hatte sich darunter ein „castle“ vorgestellt, ein Schloss, das es in Bolechow gar nicht gab. „Kestl“ heißt im Jiddischen „Kasten“. Am Ende seines großen, berührenden Buches findet Mendelsohn, zurück in der Ukraine, tatsächlich in einem alten Haus das kastenförmige Kellerloch, in dem das Mädchen untergekommen waren. „Ich sank nieder und brach in Tränen aus.“ Einen Ort für seine Trauer gefunden zu haben: Auch das kann eine Erlösung sein.

– Daniel Mendelsohn: Die Verlorenen. Eine Suche nach sechs von sechs Millionen. Deutsch von Eike Schönfeld. Kiepenheuer & Witsch,

Köln 2010. 633 Seiten,

24,95 Euro.

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