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Die Seele der Rasse? In einem nationalsozialistischen Buch zur „Erblehre“ werden Porträts angeblich rassetypischer Kinder gegenübergestellt.

© bpk / SBB

Holocaust-Forschung: "Der Terror der Gleichheit"

Götz Aly untersucht in seinem neuen Buch, wie Neid und Gleichheitssehnsucht der Deutschen den Holocaust ermöglichten. Auch Sozialdemokratie und Gewerkschaften leisteten den Gewaltausbrüchen demnach ungewollt Vorschub.

Am Ende seiner Untersuchung über den Antisemitismus der Deutschen bis zum Jahr 1933, über die Gründe dafür, warum die Deutschen in der Folge sechs Millionen Menschen ermordeten, allein weil diese Juden waren, gibt sich der Berliner Historiker Götz Aly pessimistisch: „Es gibt keinen Ort des Bösen, der sich ein für alle Mal vermauern ließe, um derartige Schrecken zu bannen“, konstatiert er. „Ein Ereignis, das dem Holocaust der Struktur nach ähnlich ist, kann sich wiederholen“, gerade auch, weil man nicht glauben sollte, „die Antisemiten von gestern seien gänzlich andere Menschen gewesen als wir heutigen“.

Das klingt so erschreckend wie wohltuend nüchtern und klar, gerade vor dem Hintergrund einer zwar vorbildlichen zeitgenössischen Holocaust-Gedenkkultur, einer Erinnerungskultur, die vor allem die Opfer in den Mittelpunkt rückt und zur Identifikation mit ihnen aufruft. Die aber gleichzeitig etwas Ritualisiertes hat und Gefahr läuft, die Täter zu vernachlässigen oder gleich zu Wesen von einem anderen Stern zu machen. Aly will mit seinem neuen Buch „Sichtblenden wegschieben, die den Blick auf die Vorgeschichte derart verengen, dass der Nationalsozialismus zum Fremdkörper, zum im Grunde unbegreiflichen Fehltritt im Gang deutscher Geschichte wird“.

Dafür zieht er auch die eigene Familiengeschichte heran. Zum Beispiel den Werdegang seines Großvaters Friedrich Schneider. Dieser trat 1926 der NSDAP bei, weil er arbeitslos wurde und den Versprechungen der Nazis zur „sozialen Hebung“ unterer Volksschichten aufsaß. Ein aktiver Nazi war der Großvater nicht, „als herzensguten Menschen“ hat sein Enkel ihn in Erinnerung – und doch hatte Schneider „einen der vielen kleinen Teile dazu beigetragen, die in ihrer Gesamtheit Deutschland auf den Weg lenkten, der in die Gewalt- und Vernichtungsherrschaft ohnegleichen führte“.

Die zwei wesentlichen Säulen, auf denen „Warum die Deutschen? Warum die Juden?“ aufgebaut ist, die beiden Quellen, aus denen sich laut Aly der Antisemitismus seit 1800 hauptsächlich speiste, sind zum einen materielle Spannungen, der unbedingte Wille zum sozialen Aufstieg, der Wunsch nach erleichtertem, schnellem Fortschritt, die allesamt zu Missgunst und Neid führten. Und zum anderen, damit eng verbunden: Die Sehnsucht nach Gleichheit, „der Terror der Gleichheit“, wie es Aly einmal auch nennt, nach sozialer wie nationaler Gleichheit, die das Sammeln und Sich-Unterordnen in Kollektiven so populär werden ließ: „Auf dieser Basis entstanden die politischen Voraussetzungen für die Massenverbrechen des 20. Jahrhunderts und – bei allen Besonderheiten – auch für den Holocaust.“

Das Provozierende an Alys beeindruckend quellen- und materialreichem Buch ist, dass es behauptet, auch Gleichheitsbewegungen wie Sozialdemokratie und Gewerkschaften leisteten den Gewaltausbrüchen ungewollt Vorschub. Zudem nimmt Aly auch deutsche Reformer und Freiheitsrevolutionäre des 19. Jahrhunderts in den Blick, die gleichzeitig überzeugte Antisemiten waren – und nichtsdestotrotz heute noch hohes Ansehen in der Bundesrepublik genießen.

Zum Beispiel der Schriftsteller Ernst Moritz Arndt. Oder der Gründer der Turnbewegung und des Deutschen Bundes, Friedrich Ludwig Jahn. Arndt, der sich Anfang des 19. Jahrhunderts als „Franzosenhasser“ und Vorkämpfer der deutschen Einheit hervortat und die Leibeigenschaft leidenschaftlich bekämpfte, sah die Juden als „fremde Plage“ oder „fremden Auswurf“ an, als eine Gruppe, die den „teutschen Volksstamm“ bedrohe. Und für „Turnvater“ Jahns Getreue waren Juden „weder Deutsche noch Christen, folglich können sie nie Deutsche werden“. Sie sollten demnach nur so lange geduldet werden, wie „sie der Deutschheit nicht in den Weg treten“.

Götz Alys neues Buch.
Götz Alys neues Buch.

© promo

Genau das aber taten nach Meinung vieler christlicher Deutscher die Juden, nachdem sie nach und nach und das auch nur widerstrebend als Vollbürger akzeptiert worden und aus dem für sie viel unsichereren Osteuropa nach Deutschland geströmt waren. „Selbstemanzipation kraft Bildung“ nennt Aly die Emanzipationsbestrebungen der Juden und belegt das mit allerlei Zahlen und Statistiken. So machten um 1900 proportional gesehen jüdische Schulkinder achtmal häufiger mittlere und höhere Schulabschlüsse als christliche. Das sollte sich dann an den Universitäten genauso bemerkbar machen wie in der durch diese Abschlüsse ermöglichten Wahl hochqualifizierter Berufe und den damit verbundenen höheren Einkommen und sozialen Stellungen.

Knapp ein Prozent betrug der Anteil der Juden an der deutschen Gesamtbevölkerung Anfang der dreißiger Jahre. Manchmal fragt man sich bei der Lektüre Alys, ob dieses eine Prozent durch die Bank in höchsten, Neid und Missgunst auslösenden Stellungen zu finden und bei einem hohen Assimilierungsgrad auch auszumachen war. Ja, ob es überhaupt kein jüdisches Proletariat wie etwa in Osteuropa gab. Und doch ist es in der Folge frappant, wie Götz Aly die den Antisemitismus fördernden politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen gerade nach dem Ersten Weltkrieg anschaulich schildert; unter was für einem hohen Industrialisierungsdruck die Mehrheitsgesellschaft bis dato gestanden hatte; wie ab 1918 die Reparationszahlungen auf der Basis des Versailler Vertrags die Weimarer Republik ökonomisch lähmten, wie es zu einem kurzen, heftigen Wirtschaftsaufschwung Mitte bis Ende der zwanziger Jahre kam, dem die Weltwirtschaftskrise dann ein ebenso heftiges Ende bereiten sollte.

Und mittendrin: die NSDAP, ihr Erstarken in einer plötzlich höchst mobil gewordenen, gerade auch in Sachen Bildung den Juden nacheifernden Gesellschaft. Sie formulierte die Ziele und Ängste einer „klassenübergreifenden Großgruppe, die um 1930 Millionen zählte, die soziologisch nur eines verband: der Wunsch nach Aufstieg und Anerkennung“, so Aly. Ein Wunsch, der aber aufgrund der Weltwirtschaftskrise nur schwer zu erfüllen war. Einmal mehr betont Aly, dass die NSDAP in allen sozialen Schichten gleichermaßen ihre Anhänger fand und insbesondere für junge Menschen enorm attraktiv war, dass sie zwar ein Auffangbecken für Sozialneider und Menschen mit Minderwertigkeitskomplexen, aber keineswegs eine Partei für Modernisierungsverlierer war. Ja, es muss ein Glamour von den Nazis ausgegangen sein, der im Nachhinein trotzdem schwer nachvollziehbar ist. Und wie schon in seinem vor sechs Jahren veröffentlichten und kontrovers diskutierten Buch „Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus“ lässt Aly immer wieder durchschimmern, dass die deutsche Bevölkerung gerade auch materiell von der Enteignung der Juden und der Vertreibung zunächst aus ihren Stellungen und dann aus dem Land profitierte.

Dabei erörtert er zusätzlich, wie die Theorie der Erb- und Rassenhygiene „eine neue Moral für Raub und Mord hervorbrachte“, wie die deutsche Bevölkerung diese auch klaglos an sich selbst durchexerzieren ließ, von Aly als Autoaggression und „Selbstverstümmelung“ verstanden und als „Folge mangelnden Selbstwertgefühls“ interpretiert: „Ich sehe darin eine wesentliche, ebenfalls aus nationalem Minderwertigkeitsgefühl entstandene – bislang zu wenig bedachte – Selbstkonditionierung für den Mord an den Juden. Wer hinnimmt, dass enge Verwandte sterilisiert, als Ballastexistenzen bezeichnet und an unbekannte Orte deportiert werden, weil sie als erbbiologisch wertlos gelten, der nimmt auch hin, dass die Angehörigen einer als feindlich denunzierten Rasse von Amts wegen verschwinden.“

Der Mix aus Neid, rassenhygienischen, das Selbstwertgefühl steigernden Theorien und kollektiver Geborgenheit, aus „vagem Wissen“ und „starkem Nichtwissenwollen“, dieser Mix sollte sich unheilvoll auswirken. Wenn Götz Aly am Ende seines Buches noch einmal all seine Thesen zusammenfasst, ist allein die Überschrift dieses Kapitels Betonung und Warnung genug: „Eine Geschichte ohne Ende“. Einfach nur ein mörderischer Betriebsunfall der deutschen Geschichte war die Zeit zwischen 1933 und 1945 beileibe nicht – sie wirkt bis heute nach.

Götz Aly: Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass, Verlag S. Fischer, Frankfurt 2011. 352 Seiten, 22,95 Euro.

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