zum Hauptinhalt

Holocaust: Ein Bruder erinnert an seine ermordete Schwester

60 Jahre lang blieb das Schicksal seiner Familie ein Geheimnis. Dann tauchte der Koffer seiner in Auschwitz ermordeten Schwester Hana auf. Und änderte alles im Leben des kanadischen Klempners George Brady.

Er hat das Versprechen nicht gehalten. Das Versprechen, das er seinen Eltern gab, als sie abgeholt wurden und er sagte, dass er auf seine Schwester Hana achtgeben würde. Er beschützte sie nicht. Nicht genug. Sicher, er konnte es nicht. Was hätte er, Jerzy Brady, der 16-jährige Junge aus dem tschechischen Nové Mesto na Morave, schon ausrichten sollen gegen einen so mächtigen Gegner wie Deutschland. Trotzdem plagen ihn Schuldgefühle bis heute. Da werden immer das 13-jährige Mädchen sein und ein alter Mann, der versagt hat und dem es erlaubt ist, 85 Jahre alt zu werden und einen nächsten Skiurlaub zu planen.

Vor ein paar Monaten dann rief dieses Deutschland bei dem alten Mann an. „Befremdlich“ sei das gewesen, „bewegend, aber auch sehr befriedigend“, sagt er und blickt dabei aus dem Fenster seines Arbeitszimmers auf den verschneiten Vorgarten seines Hauses am nordöstlichen Stadtrand von Toronto. Dann lacht er trocken und sagt: „Es ist verrückt, wie sich die Dinge umkehren. Vor 70 Jahren wollten sie mich umbringen, jetzt ehren sie mich.“

Im deutschen Konsulat wurde George Brady, kanadischer Staatsbürger, das Bundesverdienstkreuz überreicht. Die Zeremonie war feierlich. Irgendwie habe er es immer verstanden, die Dinge zu seinen Gunsten zu wenden, sagt Brady nun. „Ich fühle mich als Sieger. Hitler ist nicht mehr hier, die Nazis sind nicht mehr hier, also bin ich der Gewinner.“

George Bradys Geschichte kennt in Nordamerika fast jedes Kind, in Japan ebenso. Und das hat mit einem alten braunen Reisekoffer zu tun. Auf dem steht in Deutsch geschrieben: „Hanna Brady, geb. 16. Mai 1931, Waisenkind". George Brady wusste sehr lange nicht, dass es diesen Koffer, der einmal seiner Schwester gehört hatte, noch gibt. Er wusste nur, dass er der Einzige seiner Familie war, der Auschwitz überlebt hatte. Er war im Januar 1945 bei einem Todesmarsch geflohen. Als er nach Kanada kam, verschwieg er das alles. Wozu die Menschen behelligen, die sich ihre Wasserleitungen von ihm, dem Installateur, reparieren ließen? Höchstens mit anderen Auschwitz-Überlebenden wie seinem Kompagnon, mit dem er seine Firma gegründet hatte, tauschte er sich aus. Aber das war es dann schon.

Bis in den August des Jahres 2000 hinein bewahrte Brady sein Geheimnis. Dann bekam er Post aus Japan. Dort war Hanas Koffer einer Lehrerin namens Fumiku Ishioka aufgefallen, die in Tokio ein kleines Museum leitet, das Holocaust Education Resource Center. „Dieser Brief von Fumiko und alles, was danach passierte, haben mein Leben komplett verändert“, sagt Georg Brady und nickt in Richtung eines vollen Regals in seinem Arbeitszimmer. Dort stapeln sich Kisten von Dokumenten, Fotos und mehrere Ausgaben eines Buches, das ein Klassiker der Jugendliteratur geworden ist: „Hana’s Suitcase“. Das Buch der kanadischen Rundfunkjournalistin Karen Levine erzählt von der Suche Fumiku Ishiokas nach einem Menschen, der Hana Brady gekannt hatte und mehr darüber sagen konnte, was für ein Mensch sie gewesen war, welcher Familie sie entstammte. Wieso war sie ein Waisenkind? Da gab es nur einen, der das noch konnte.

Wie Hana Bradys Koffer aus Auschwitz nach Japan gelangte, ist eine eigene Geschichte. Die Gedenkstätte im einstigen Vernichtungslager hatte ihn unter vielen ähnlichen Koffern ausgewählt, um den überwiegend jugendlichen Besuchern des Tokioter Holocaust-Zentrums den Völkermord an den europäischen Juden nahezubringen. Dessen Leiterin Fumiko Ishioka wusste, dass der Koffer einem von schätzungsweise 1,5 Millionen Kindern gehört hatte, die in deutschen Konzentrationslagern umgekommen waren. Mehr Informationen hatte sie nicht. Also machten die Lehrerin und eine Gruppe von Schülern sich daran, mehr über dieses unbekannte Kind zu erfahren.

„Ihr geht auf eine Reise“, sagte ihnen der Onkel

Sie bekamen heraus, dass Hana aus dem bekannten Wintersportort Nové Mesto na Morave stammte und zuvor in Theresienstadt interniert gewesen war, einem Ghetto in der gleichnamigen Garnisonsstadt – mehr aber nicht. Also reiste Fumiko Ishioka im Sommer 2000 persönlich nach Europa und fand heraus, dass Hana Brady Auschwitz zwar nicht überlebt, aber dass sie einen großen Bruder namens Jerzy hatte, der nach dem Krieg nach Kanada ausgewandert war. Fumiko schrieb ihm einen Brief, er antwortete, sie verabredeten ein Treffen in Kanada. Die Journalistin Karen Levine schrieb erst eine Reportage über das Treffen, später ein Buch über Hanas Koffer, das auf langen Gesprächen mit George Brady und Fumiko Ishioka basierte.

In einfachen, einfühlsamen Sätzen schildert Levine die Suche nach der Geschichte hinter dem Koffer und montiert das mit der tragischen Familiengeschichte der Bradys, ergänzt durch Fotos aus dem Familienalbum, das George zusammen mit einigen anderen Erinnerungsstücken kurz vor seiner Deportation bei Verwandten verstecken konnte. Levine beschreibt, wie die Nationalsozialisten nach dem Einmarsch in der Tschechoslowakei am 15. März 1939 jüdischen Kindern verboten, Kinos, Spielplätze und Schulen zu besuchen. Wie die Gestapo nach Denunziationen die Eltern abholte und die Geschwister sich vorübergehend zu – katholischen – Verwandten flüchteten. Wie einige Zeit später auch Bruder und Schwester deportiert wurden, um die Stadt, in der es bis dahin zwei jüdische Familien gegeben hatte, „judenfrei“ zu machen.

„Ihr geht auf eine Reise“, sagte ihnen der Onkel, bei dem sie untergekommen waren, als Ende April 1942 die Vorladung der „Zentralstelle für Jüdische Auswanderung“ eintraf. „Ihr geht an einen anderen Ort, an dem viele andere Juden sind, und viele andere Kinder zum Spielen.“ Am 16. Mai feierte George mit Hana ihren elften Geburtstag mit ein paar Kerzenstummeln in einem Lagerhaus, 50 Kilometer entfernt von ihrer Heimatstadt, das als Deportationszentrum diente.

Kurze Zeit später kamen die Geschwister nach Theresienstadt. Im Ghetto kamen sie zwar in verschiedenen Kinderheimen unter, schafften es aber immer wieder, sich zu sehen und Mut zuzusprechen. „George nahm seine Verantwortung als großer Bruder ernst“, heißt es im Buch „Hanas Koffer“. Im September 1944 beschleunigten die Nationalsozialisten die Transporte aus Theresienstadt in die Vernichtungslager. Eines Tages stand auch Georges Name auf einer Deportationsliste. „Pass auf deine Gesundheit auf“, sagte er seiner Schwester, als er sie das letzte Mal traf. „Ich habe Mutter und Vater versprochen, dass ich auf dich aufpasse, damit wir alle als Familie wieder zusammen sein können, das will ich einhalten.“ Dann umarmten sie sich. Vier Wochen später stand auch Hanas Name auf einer Liste. Am Tag ihrer Ankunft in Auschwitz, dem 23. Oktober 1944, wurde die 13-Jährige, deren Namen die KZ-Verwalter auf dem Koffer fälschlicherweise mit zwei „n“ geschrieben hatten, in der Gaskammer ermordet. George überlebte das KZ als Zwangsarbeiter. Nach dem Krieg wanderte er nach Kanada aus und baute mit dem, was er in Theresienstadt gelernt hatte, einen Klempnerbetrieb auf, der, als er vor 20 Jahren in Rente ging, 200 Mitarbeiter beschäftigte. Er gründete eine Familie mit vier Kindern und bislang sieben Enkelkindern. Nur über Hana sprach er kaum noch – bis ihn der Brief aus Japan erreichte.

Er erzählt Kindern, „was passieren kann, wenn Menschen einander hassen“

Inzwischen hat „Hana’s Suitcase“ Millionenauflagen erreicht, es wurde in 45 Ländern veröffentlicht, auch in Deutschland. Und George Brady fischt aus dem Postkorb dieser Woche einen Brief, der ihn von dort erreicht hat. „Lieber Mr. Brady“, schreibt die zehnjährige Zoe aus dem rheinischen Kerpen auf rosa Briefpapier. „Vielleicht wundern Sie sich, dass ein deutsches Mädchen Ihnen schreibt. Immerhin waren es ja Deutsche, die Sie zum Leiden gebracht haben.“ Dann erzählt sie, wie sehr die Geschichte von George Brady und seiner Schwester sie berührt habe. Jedes Schreiben beantwortet Brady, indem er ein Foto signiert und verschickt, das ihn und seine Schwester kurz vor der Deportation zeigt. „Es wäre schrecklich, wenn meine Schwester und ich so getrennt würden wie Hana und George“, schreibt ein kanadisches Mädchen. Ein Junge, der mit seiner Familie China verlassen hat, will wissen, wie es war, alles hinter sich zu lassen. Und eine Mutter aus Deutschland beschreibt, wie ihr zwölfjähriger Sohn durch „Hanas Koffer“ erstmals ein Interesse an der Geschichte des Nationalsozialismus entwickelt habe. Das Buch inspirierte Filme, Theaterstücke, Lieder. In der aktuellen Jubiläumsauflage findet sich eine Liste der Buchpreise und Ehrungen, die „Hana’s Suitcase“ gewonnen hat: Sie ist zwei Seiten lang.

Als Brady im März 2001 in Tokio zum ersten Mal öffentlich über seine Vergangenheit spricht, kommt ihm ein Gedanke. Hanas Wunsch sei in Erfüllung gegangen, begreift er. Seine Schwester habe früher immer davon erzählt, Lehrerin werden zu wollen. Jetzt lernten ihretwegen Kinder rund um die Welt, was Toleranz, Respekt und Mitgefühl bedeuten. „Ich habe die Verpflichtung, für diejenigen zu sprechen, die es nicht geschafft haben“, sagt der alte Brady. „Es ist mir zugefallen.“ Hunderte Male hat er Schulklassen in Kanada und rund um die Welt besucht, seine Geschichte erzählt und den Kindern gezeigt, „was passieren kann, wenn Menschen einander hassen“, wie er sagt.

Inzwischen hat er die Zahl der Auftritte allerdings reduziert. Auch, weil er ein anderes Projekt in Angriff genommen hat, das ein bisschen mehr mit ihm selbst zu tun hat. In Theresienstadt war er mit Dutzenden anderen Jungen zwischen zehn und 16 Jahren in einem überfüllten Saal zusammengepfercht. Dank eines älteren Mitgefangenen und Betreuers, des 29-jährigen Erziehers Valtr Eisinger, setzten George und die anderen Jungen dem Hunger, den Krankheiten und der Verzweiflung etwas entgegen. Sie gründeten heimlich eine Selbstverwaltung, die nach einer Petersburger Schule benannte „Republik Schkid“. Sie brachten eine eigene Zeitschrift heraus, handgeschrieben, darin Artikel, Gedichte und Zeichnungen. Auflage: ein Exemplar, das unter den Jungen zirkulierte. In einer Art Untergrundschule diskutierten sie die Beiträge und aktuelle Themen, ohne dass die deutschen Bewacher etwas davon mitbekommen durften. George Brady will, dass daraus ein Film wird.

Sachlich, mit fester Stimme spricht Brady von den Erlebnissen seiner Jugend, er hat die grauenhaften Details schon oft beschrieben. Doch dann bewegt ihn die Erinnerung sichtlich. „Ich zeige Ihnen mal etwas“, sagt er. Dann holt er aus einem Schrank die Familienerinnerungen hervor, Fotos, Briefe und offizielle Dokumente, seinen Judenstern. Und dann ist da noch eine mit Samt ausgeschlagene kleine Kiste: fünf aus dunklem Brotteig geformte Herzen, Hufeisen und Perlen – Geschenke für Hana zu ihrem zehnten Geburtstag, die die Mutter aus dem Konzentrationslager Ravensbrück verschicken durfte, als die Kinder noch bei Onkel und Tante wohnten. Zusammen mit einem kurzen Brief, in dem die Mutter schreibt: „Es tut mir leid, dass ich Deine Geburtstagskerzen nicht mit Dir zusammen auspusten kann.“ Als Brady seine Schätze vorsichtig in die Kiste zurücklegt, atmet er tief durch, seine Stimme zittert, als er sagt: „Es ist unvorstellbar, dass so etwas so lange überlebt und nicht auseinanderfällt.“

Dieser Text erschien auf der Reportage-Seite.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false