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Kultur: Ich beiß’ auf deine Witze

Neues aus der Flick-Collection: Urs Fischer in den Rieck-Hallen

Zum Dahinschmelzen schön sind die drei Grazien. Doch nicht der Betrachter gibt sich ihnen hin. Nein, das wächserne Trio schmilzt selbst. Auf den entblößten Armen, Beinen, Hinterteilen brennen Dochte, die peu à peu die gesamte Skulptur zerlaufen lassen. Und wirklich schön sind diese drei ungeschlachten Figuren, die eher an Pin-up-Karikaturen als an ihre antiken Vorbilder Aglaia, Euphrosyne und Thalia erinnern, ebenfalls nicht.

Die Widersprüchlichkeit ist Programm. Bei Urs Fischer verkehren sich die Dinge. Nie ist etwas, wie es sein soll. Was zunächst sophisticated erscheint, seine mehrschichtigen Zeichnungen, seine rätselhaften Verse („und ich beiss auf deine witze“), die Bilder und Skulpturen überwuchern, wirkt schon im nächsten Moment banal. Und umgekehrt.

Der Schweizer Künstler macht es seinem Publikum nicht leicht. Und doch hat der 31-Jährige im Sturmschritt die großen Ausstellungshäuser eingenommen. Einzelpräsentationen im Pariser Centre Pompidou, dem Amsterdamer Stedelijk Museum und Kunsthaus Zürich wechseln sich mit Biennale-Teilnahmen. Zu guter Letzt wird der Vielgefragte nun in seiner Wahlheimat Berlin ausgestellt, wo er bislang vom umtriebigen Kunstgeschehen erstaunlicherweise fast unbehelligt blieb. Die reichen Sammlungsbestände der Flick-Collection machen nun eine erste große Übersichtsschau möglich - worauf Generaldirektor Peter Klaus Schuster mit Genugtuung verweist. Mit Urs Fischer wird der Reigen von Einzelausstellungen in den Rieck-Hallen eröffnet, in den nächsten sieben Jahren sollen sie dem Publikum die Vielfalt der Flick-Leihgabe vor Augen führen.

Der Start im letzten Herbst, die komplette Bespielung von Hamburger Bahnhof und den von Flick umgebauten Lagerhallen, gilt in der Stiftung Preußischer Kulturbesitz als Erfolg: Eine Viertelmillion Besucher hat die Erstausstellung gesehen, begleitet von „einer der größten Vorfelddebatten“, die es in der Geschichte des Museumswesens je gab, so Eugen Blume, Leiter des Hamburger Bahnhofs. Die Kunstkritik reagierte eher reserviert auf das ausufernde Angebot aus den Depots des Schweizer Sammlers. Eine Kollektion ohne Handschrift, ohne rechte Kontur, hieß es, zeitgeistig und bestückt mit dem, was am Markt gerade gut und teuer war. Auf den zweiten Blick erwies sich der Verdauungsapparat Kunst gerade als Erkennungsmerkmal der Sammlung: im Entree die gigantische Baumarkt-Installation des Amerikaners Jason Rhoades, dazu die dunklen Kammern von Paul McCarthys Sex-Saloon oder die manischen Alltagsarrangements des Schweizers Dieter Roth.

Urs Fischer fügt sich bestens in dieses Profil, das Kunst und Leben als Equilibrium versteht. Seine Werke besitzen einen geradezu kindlichen Zugriff auf das, was Leben heißt, was „geil“ ist, wie der Künstler sagt: Kitsch, Comic, Alltagsrequisiten wie Tisch und Stuhl. Letztere überzieht er mit klebrig-brauner Masse, platziert einen farbtriefenden Kopf dazu, der Titel: „Gedanken kommen zurück ,bitte’“. Oder er malt den Schattenwurf des arrangierten Mobiliars in Marmelade nach. Mit seinem Stoßseufzer im Katalog spricht Blume vielen aus der Seele: „Auf eine fast widerwillige Weise hält man ihm zugute, Kunst zu produzieren, auch wenn man sich beinahe ärgert, von dem gefangen zu sein, was Fischer so selbstsicher als Kunst deklariert.“

Doch Fischer greift sich nicht irgendetwas und wandelt es auf wunderbare Weise in ein Museumsobjekt. Mit einer gewissen Durchtriebenheit mischt er zugleich die Kunstgeschichte auf, indem er seine Vorläufer antreten lässt. Mit seinem Landsmann Dieter Roth teilt er die Vorliebe für Zerfallsprozesse. Aus den geöffneten Schädeln zweier Wachsköpfe hängen Brotteiglappen heraus. Auch das Stillleben aus einer zusammengeschraubten Birnen- sowie einer Apfelhälfte dürfte bald den schönsten Schimmel produzieren. Dem Vater der Ideenkunst erweist er mit einer Glasinstallation, die an Marcel Duchamps „Grand Verre“ erinnert, seine Reverenz. Ganz nebenbei stellt der gewiefte Künstler den Skulpturbegriff in Frage, indem er seine Grazien sich selbst auflösen lässt. Am Ausstellungsende, nach zehn Wochen, bleibt nur ein Häuflein Wachs; der Sammler muss sich die drei Damen dann erneut gießen lassen.

Damit nicht genug: Im Hofgelände des Hamburger Bahnhofs hat der Schweizer aus mehreren Mauern eine minimalistische Skulptur à la Per Kirkeby gebaut und doch in Teilen wieder umgekippt. Nichts bleibt, wie es ist. Die hohe Kunst könnte auch ein Kartenhaus sein. War da nicht ein Kichern?

Hamburger Bahnhof, Invalidenstr. 50/51, bis 7.August

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