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Kultur: Ich bin ein Albatros

Ein Junge träumt vom Schwarzen Meer: „Koktebel“

Was für eine Sehnsucht nach Vätern, was für ein Waisenland. Das russische Kino ist derzeit besessen von Vater-Sohn-Geschichten, entwirft Schmerzensparabeln von herzzerreißend intimer Heimatlosigkeit: keine Väter, nicht mal mehr Restvorbilder, kein Zuhause mehr in einem wie besoffen dahintaumelnden Vaterland.

So etwa, gegen den Strich, lässt sich Aleksander Sokurows soeben ins Kino gekommener „Vater und Sohn“ lesen, das sonnengelbstichige Idyll einer Symbiose, die nur in der Welt der Kinoträume so innig-sinnig fermentiert. So ähnlich auch lässt sich Andrej Swjagintsews in Venedig preisgekrönte „Rückkehr“ verstehen, die Geschichte vom plötzlich auftauchenden Schreckensvater, der die aufgesparte Restliebe seiner Söhne fatal verspielt. Und blickt man bis in die Phase der Perestroika zurück, an deren wenige große Filme das russische Kino heute anknüpft, dann leuchtet da noch immer Sergej Bodrows „S.E.R. – Freiheit ist ein Paradies“: die verzweifelte Reise eines Jungen quer durch Russland nach Norden, raus aus dem Erziehungsheim und rein ins Straflager, wo der Vater sich längst aufgegeben hat und seinen Sohn sowieso. Eine kurze, fast stumme Begegnung ist das, aus nichts, und sie wirft einen um.

Auch „Koktebel“, vergangenes Jahr beim Moskauer Filmfest ausgezeichnet, erzählt von einer Reise Tausende Kilometer durch Russland, nur südwärts, Richtung Krim und, vorsichtig, Richtung Wärme. Ein Vater (Igor Tschernewitsch), der nach dem Tod seiner Frau dem Suff verfallen war und die Achtung, nicht aber die Liebe seines Kindes schon verloren hat, wagt mit eben diesem elfjährigen Sohn (Gleb Puskepalis) den Aufbruch. Und er muss ihn wagen, weil er am Ende ist: ohne Arbeit, ohne Wohnung, ohne Geld. In Koktebel am Schwarzen Meer hat der Mann noch eine Schwester, eine letzte Zuflucht. Und Albatrosse, die mit ihren Schwingen so mühelos auf den Luftströmen schweben und von deren Freiheit der Sohn träumt, gibt es dort vielleicht auch.

Bis dahin aber ist es weit, und Koktebel ist schon lange nicht mehr Koktebel. Auch ein einst womöglich prächtiges Segelfliegerdenkmal ist nur mehr ein rostzerfressener Quader Beton. Bis dahin ziehen die beiden Landstreicher von Unterschlupf zu Unterschlupf, und irgendwann steht die filmische Reise, in sorgfältig langen Einstellungen mit einem Minimum an Dialogen und Musik, fast still. Bis ein neuer, schmerzhafter Aufbruch drängt: Weil der Vater bei einer Frau bleiben will, deren Körper- und Seelenwärme ihm über den Winter hilft, zieht der Junge trotzig auf eigene Faust weiter, albatroswärts. Was tut tiefer weh: Wenn ein Sohn den Vater verliert oder umgekehrt?

Die Regisseure Alexej Popogrebskij und Boris Chlebnikow, beide Anfang Dreißig, erzählen die Geschichte ganz aus der Perspektive des Jungen, halten die Kamera manchmal auf Kinderkopfhöhe, blicken misstrauisch zu diesen seltsamen Erwachsenen auf, den Suffköppen und anderen Zufallsgastgebern. Wenig passiert in diesem Film, aber nur für den, der ungenau sieht. Und langsam findet ihn nur, wer allzu schnell lebt. Trostweise fahren ab und zu Güterzüge mit offenen Waggontüren durchs Bild und alte Lastwagen, in denen immer Platz für junge Streuner ist. Das bringt Tempo.

Viele kleine überraschende Wendungen hat „Koktebel“, und die letzte muss man nicht unbedingt glauben. „Ich sehe alles wie von oben“, sagt das weise Kind manchmal – und wie zum Beweis schwingt die Kamera sich in die Albatros-Perspektive, die man im Kino das Auge Gottes nennt. Ach, müder Gottvater: Nur von sehr weit oben gesehen ist die Welt so, wie sie doch sein könnte.

fsk am Oranienplatz (OmU)

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