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Kultur: Ich bin sie

Protokoll einer Verstörung: Sören Voigts „Identity Kills“

Identität kann tödlich sein – in einer Welt, in der Anpassung alles und Charakter nichts gilt. Oder, sofern sie einem fehlt, in einer Welt, in der Auffallen alles ist. Die unscheinbare Karen (Brigitte Hobmeier) ist nach einigen Tagen in der Psychiatrie wieder nach Hause gekommen. Ihr Freund Ben (Daniel Lommatzsch) starrt sie an, als ob er sie nicht kennt, erinnert sich dann: „Ach, du wohnst ja hier.“ Währenddessen ist Bens Ex- und Immer-mal-wieder-Freundin Sara in die Wohnung gezogen, feiert dort ihren Geburtstag, von dem Karen ausgeschlossen bleibt. Karen flieht, wird im Café für eine andere gehalten, eine Bewerberin um einen Hoteljob in der Karibik. Das gefällt ihr, dieses „Eine-andereSein“, sie übernimmt andere Rollen, klaut sich eine neue Identität zurecht. Doch Vorsicht, Identität kann tödlich sein.

Sören Voigts „Identity Kills“ ist 2003 auf der Berlinale gelaufen, mit großem Erfolg. Jetzt erst kommt er regulär ins Kino – und passt perfekt in diese Zeit der großen Depression nach der Berlin-Euphorie. Es ist ein Berlin-Film der hoffnungslosen Sorte. Diese Kälte, diese Hässlichkeit, diese Tristesse zwischen Fischerinsel und Alexanderplatz. Allein die Szene, in der ein Reisebüro-Mitarbeiter erklärt, warum Vollpension billiger kommt als Selbstversorgung, beim Last-Minute-Flug in die Karibik: Wie soll man da keine Depression kriegen?

Karen jedoch ist längst weggetreten, irrt wie ein Geist durch die Stadt. Und man weiß nicht: Soll man Mitleid mit ihr haben, weil sie wie Aschenputtel zum Putzen in die Küche geschickt wird? Ärgert man sich, weil sie nicht aufbegehrt? Oder ist man abgestoßen von ihrer Kälte, von der Rücksichtslosigkeit, mit der sie schließlich nimmt, was sie will – eine neue Stelle, ein neues Kostüm, ein neues Leben?

Sören Voigt ist auf Brigitte Hobmeier aufmerksam geworden, weil sie das Gretchen in Peter Steins „Faust“-Inszenierung spielte. Und etwas Gretchenhaftes hat sie auch als Karen, etwas Sanftes, Demütiges, Stures. Man möchte sie packen manchmal, ihr zurufen: „Wehr dich doch!“Und doch kämpft Karen auf ihre Weise, und am Ende gewinnt sie. Zumindest ein One-Way-Ticket weg aus Berlin.

fsk am Oranienplatz

Christina Tilmann

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