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Kultur: „Ich bleibe Anarchistin“

Judith Malina, Gründerin des New Yorker Living Theater, über den 11. September und die US-Wahl

Frau Malina, in den deutschen Programmkinos und heute Abend in Berlin läuft ein preisgekrönter Dokumentarfilm über das Living Theatre, das Sie 1951 in New York zusammen mit Ihrem Mann Julian Beck gegründet haben. Ist der Filmtitel „Resist!“ – Leiste Widerstand! – Ihr eigenes Motto?

(Lacht) Wenn man diesen Film sieht, weiß man zumindest, was das Living will – nämlich nicht nur schönes Theater machen. Aber vor allem sieht man, wie wir auch heute noch in der Welt herumreisen: in Genua beim G8Gipfel, im Libanon, in New York im September 2001. In „Resist!“ sieht man den großen Zusammenhang unserer Arbeit und unsere Verbindung zur Friedensbewegung.

Der Film stellt offen die Frage, ob Ihr Theater, das legendär wurde auf dem Höhepunkt von Flower Power mit seiner Forderung nach dem Paradies hier und jetzt („Paradise Now“, 1968), ob dieses Theater nicht längst ein Anachronismus ist.

Wir haben in all diesen Jahren einen vollen Zyklus durchlebt. Wir sind durch die Verzweiflung gegangen und bei der nächsten Welle der Hoffnung angekommen. Der Moment des Enthusiasmus kehrt wieder, bei den großen Demonstrationen, wo junge Menschen aus aller Welt zusammenkommen – 200 000 waren es in Genua, in New York war es eine halbe Million. Da sind ganz verschiedene Gruppen dabei, Anti-Walfang-Aktivisten, Pazifisten, Feministen, es ist eine einzige große Demonstration gegen den entfesselten Kapitalismus. Das sind die Kinder und Enkel der 68er, denen ihre Eltern gesagt haben, 1968 schien alles möglich, aber ihr seid zu spät geboren. Und die Kinder sagen: Was soll das heißen, zu spät geboren, ich lebe jetzt, ich will eine bessere Welt, ich will das hinausschreien! Sie sind freier als wir es waren, die alten Grenzen, links, rechts, das alles bedeutet ihnen nichts, ihr Slogan ist: Eine andere Welt ist möglich. Das ist eine unglaublich inspirierende Energie.

Glauben Sie wirklich, dass diese jungen Leute das verlorene Paradies finden werden, an dem die Generation vor ihnen gescheitert ist?

Ich bin Optimistin. Wir bewegen uns in einer Spirale aufwärts. Wir wissen mehr als vor 30 Jahren, wir haben was gelernt. Die neue Generation, auch wenn sie in der Schule nichts lernt, weiß etwas, das wir nicht gewusst haben. Auch wenn die Gefahren ständig zunehmen, Umweltzerstörung, Krieg, Terrorismus, die einzig realistische Losung lautet doch: Entweder wir verändern die Welt, oder wir zerstören sie.

Ihre jüdischen Eltern, der Vater Rabbiner, die Mutter Schauspielerin, sind mit Ihnen vor den Nazis aus Kiel nach New York geflohen. Ihr Großvater wurde von den Deutschen ermordet – wie ist Ihr Verhältnis zu Deutschland?

Pazifistisch zu sein, heißt für mich nicht nur nicht zu töten, sondern auch, dass man nicht hassen kann. Als wir Mitte der 60er-Jahre das erste Mal mit dem Living nach Deutschland kamen, war die Hälfte der Gruppe Juden, und es fiel ihnen schwer, wenn der Kellner die Suppe verschüttete, nicht gleich „Nazi“ zu ihm zu sagen. Ich hatte eine ganz andere Ansicht. Ich sage allen dasselbe, ob im Theater oder zu meinen Kindern – auch wenn ich mit George W. Bush spräche: Die einzige Lösung ist radikale Abrüstung, nicht nur die Abschaffung der Waffen und Gefängnisse, wir müssen auch die Grenzen abbauen. Es ist schön, dass es jetzt in Europa weniger Grenzen gibt. Andererseits haben wir den Terrorismus, und die Gesellschaft entwickelt sich zurück, weil wir Angst haben. Auch der Nazismus kam aus der Angst, weil es nach dem Ersten Weltkrieg nicht gelang, eine Welt zu schaffen, die einen Sinn hatte für die Leute. So ist Hitler an die Macht gekommen, weil er sagte, wir werden eine bessere Welt für euch bauen! So kam es nicht, und wir müssen als Kinder und Überlebende der großen Verheerungen einander beibringen, dass Gewaltlosigkeit und Altruismus eine Chance haben. Unser Theater will Hoffnung machen, denn keiner will Armut oder Krieg, jeder will Gerechtigkeit. Aber man lehrt uns in der Schule, dass die Utopie das Unmögliche ist, dass wir nicht für das kämpfen können, was wir wirklich wollen, sondern immer nur für Kompromisse. Das ist ein Fehler.

In Abwandlung Ihres frühen Stückes „Paradise Now“ heißt die Aktion, mit der sie schon fünf Tage nach dem 11. September auf die Straßen von New York gingen, „Resist now“. Wogegen richtete sich der Widerstand in dieser Situation?

Damals herrschte in New York ein fantastisches Gefühl der Solidarität. Fremde Leute haben einander umarmt, zusammen geweint, als befänden wir uns auf einer höheren Stufe des menschlichen Zusammenlebens. Aber man hat auch sofort gesehen, wofür die Anschläge benutzt werden würden: nämlich um Angst und Hass zu säen. Auf einmal ging es um Rache, und dieser Kreislauf der Gewalt kam in Gang, wo man sagt, wir müssen die vernichten, denn die wollen uns vernichten – und wahrscheinlich wollen sie das ja auch. Dagegen wollten wir etwas tun. Die jungen Leute, die Künstler, jeder hat pazifistische Stücke gemacht, nicht nur das Living Theatre.

Das hat nichts genützt.

Ja, der Krieg kam trotzdem. Für mich hat es wenig Sinn, was die Amerikaner im Irak machen, die Angst macht immer schlechte Politik, sie macht bittere Gefühle, die zu Gewalt und Hass führen. Ein Amerika, das hasst, wird selbst gehasst.

Ihr Film kommt am Vorabend der Wahl in den USA in die deutschen Kinos. Wie haben Sie den Wahlkampf erlebt?

Ich bin Anarchistin, ich gehe nicht zur Wahl, ich will nicht den Commanding Chief of the Armed Forces unterstützen. Aber ich hoffe, dass Kerry gewinnt. Ich habe Angst, dass unter Bush die Politik noch rigider wird. Dass der Terrorismus nicht als Chance genutzt wird, uns zu lehren, dass wir die Liebe der Dritten Welt gewinnen müssen, sondern dass es mehr Faschismus gibt unter dem Vorwand, dass wir uns vor dem Terrorismus schützen müssen. Bushs Politik hat den Terrorismus faktisch gestärkt.

Wie überlebt das Living heute in New York?

Oh, wir bauen gerade ein neues Theater an der 49. Straße in Manhattan, am Rand des offiziellen Broadway-Theaters. Damit sind wir zum ersten Mal mittendrin, an dem Ort, den man in den revolutionären Tagen „the belly of the beast“ nannte. Gerade jetzt, wo es so schwierig ist durch den Krieg und das Verhalten der Vereinigten Staaten, gerade jetzt ist es wichtig, dass wir da sind. In Europa ist es leichter, hier liebt man uns, in New York werden wir gebraucht. Dort gilt unsere alte Botschaft mehr denn je: Make love not war. Oder haben Sie schon eine bessere Idee?

Das Gespräch führte Ruth Fühner.

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