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Kultur: Ich glaube, also spiele ich

Alles oder nichts: eine Begegnung mit der Pianistin Hélène Grimaud

Die Entourage kann’s kaum fassen: Die Künstlerin hat sich in Luft aufgelöst. Eben noch glitt sie wie eine Elfe durch die Hotellobby – jetzt ist sie verschwunden. Geht nicht ans Telefon, reagiert auf keine Klopfzeichen, lässt alle unter der Zimmertür hindurchgeschobenen Zettel unbeachtet. Es war ein langer Tag in Berlin, und die Entourage ist müde. Der Manager, die Pressefrau, die Promotion-Chefin, die persönliche Vertraute. Witze werden gemacht, Japanisch wird parliert (oder Schwedisch?), Wein wird getrunken. Und dann kommt sie doch, Hélène Grimaud, in Schal und Mantel. Küsschen für jeden. Danke, dass Sie gewartet haben, sagt sie artig: „I appreciate that“. Nein, trinken wolle sie nichts. Das letzte Interview heute. Bitte.

Wenn jetzt der Eindruck entstanden sein sollte, Hélène Grimaud sei eine Diva, dann ist das falsch. Diven sind vielleicht so schön wie sie, aber nicht so ernsthaft. Und erst recht nicht so klug und so bestürzend reflektiert. Fast fürchtet man sich ein bisschen vor ihr. Dass sie Klavier spielen kann, mon dieu, natürlich, aber dass sie auch so beredt ist, ja sich geradezu brillant artikulieren kann? Sie sei schon als Kind der „All-or-Nothing“-Typ gewesen, erzählt die 1969 in Aix-en-Provence geborene Pianistin und prüft einen mit ihren meeresblauen Mandelaugen: „Nichts war gut genug, alles hat mich sofort gelangweilt. Das muss für mein Umfeld entsetzlich gewesen sein. Dann kam die Musik, und plötzlich hatte ich das Gefühl, da ist etwas, das ist so groß in seinen Anforderungen, mit dem würde ich niemals fertig oder gar: zu Ende sein. Musik ist unendlich tief.“

Alles oder nichts also. Eine Frau mit Maxime. Eine Rebellin, eine Anarchistin in einer Welt, in der alles Gemischte, Unverbindliche und Lauwarme so viel mehr geliebt wird. Trotzdem (oder doch: deswegen?) hat Hélène Grimaud Karriere gemacht, musizierte früh an der Seite von Daniel Barenboim, Claudio Abbado und Kurt Sanderling, war regelmäßig bei Gidon Kremers Festival in Lockenhaus zu Gast, fühlte sich schon immer der deutschen Musik innig zugetan – und unterschrieb 2002 einen Exklusivvertrag mit der „Deutschen Grammophon“. Das heißt: Man verspricht sich etwas von ihr. Das heißt auch: Sie verspricht sich etwas. Ob sie nicht Angst habe, sich künstlerisch zu verlieren unter dem Kuratel der Entourage, dem steigenden Druck der PR-Termine und Foto-Shootings? Entspanntes Kopfschütteln: „Das ist wahrscheinlich das Einzige, worin ich immer gut war. Ich selbst zu sein. Und es zu bleiben. Wovor ich Angst habe und immer Angst hatte, ist, nicht zu genügen. Ich bin eine große Zweiflerin.“

Man glaubt es ihr auf’s Wort und weiß eigentlich nicht genau, wieso. Grimauds Debüt-CD bei dem Gelblabel jedenfalls bildet die Künstlerin in geradezu aufreizend existenzialistischer Pose ab: das Haar zurückgebunden, die Schultern hochgezogen, dunkles Jackett über dunklem Hemd, den Blick ebenso verfroren wie verhungert auf den Betrachter gerichtet. Sartre lässt hier grüßen und Brecht auch. Mit dem musikalischen Programm hat diese in sepiabraune Körnigkeit getauchte Ästhetik viel zu tun und wenig zugleich. Die Kombination von John Corigliano mit Beethoven und mit Arvo Pärt, sagt Grimaud und schaut noch etwas ernster drein als sonst, sei eine sehr persönliche und insofern durchaus existenzielle: „Ich musste das so machen. So und nicht anders.“ Die Botschaft dahinter: Jedes Stück spannt ein Fadenkreuz zwischen dem Vergangenen und dem Zukünftigen.

John Corigliano hebt in seiner „Fantasia on an Ostinato“ von 1985 auf den zweiten Satz von Beethovens Siebter ab, Beethoven selbst vergewissert sich in seiner „Sturm“-Sonate bei Shakespeare und nimmt in seiner Chorfantasie von 1809 ein gattungstechnisches Ungeheuer wie die eigene Neunte vorweg; und Arvo Pärt zitiert in seinem „Credo“ für Klavier, Chor und Orchester von 1969 das erste Präludium aus Bachs Wohltemperiertem Klavier (Chor und Orchester des Schwedischen Rundfunks unter Esa-Pekka Salonen). Das heißt: Jedes scheint hier mit jedem vernetzt. Wichtiger noch: Es gibt stets eine Art „heiligen“ Kern, ein Gut, eine Ordnung, etwas, an das kein – kompositorisches oder tatsächliches – Chaos zu rühren vermag.

Keine Utopie ohne Tradition, keine Antizipation ohne Gedächtnis? Um mit Grimaud zu antworten: „Die Texte aus der Vergangenheit sind für uns verantwortlich, sie zeigen uns, wo unsere Zukunft liegt. Musik entzündet den Geist. Sie hilft, die Dinge nicht nur so zu sehen, wie sie sind, sondern wie sie sein könnten. Und wenn man oft genug sieht oder hört, wie es sein könnte, dann fängt man irgendwann an daran zu glauben.“ Im Übrigen sei die Grammophon mit dem romantisch-idealistischen Programm sehr einverstanden gewesen. Kein Kampf? Nein, kein Kampf.

Musik als Glaubensakt also, Kunst als (letztes) universelles Heilsversprechen. Grimaud wagt sich hier an ein Tabu und sie tut dies sehr bewusst. Auch spielerisch sucht sie das Bekenntnis, lässt niemals die Materialität des Instruments außer Acht, stürzt sich bereitwillig kopfüber ins Innere und in jede Stille. Die Phasen der Ruhe vor und nach dem Sturm im Kopfsatz der Beethoven-Sonate etwa („d-Moll ist meine absolute Lieblingstonart!“), sie trudeln somnambul vor sich hin, zeitlos, schwerelos, als sänke hier in wenigen Takten das ganze Abendland auf den Meeresgrund. Das Allegretto wiederum tritt in höchster Atemlosigkeit die Flucht nach vorne an – um nichts anderes zu finden als ein funkelndes Perpetuum mobile, das Glück im Rausch der eigenen Bewegung.

Und das in Pärts konvulsivischen Empörungen gleichsam implantierte Bach-Präludium schließlich winkt wie aus einem gläsernen Särglein – so schön, so rein, so unantastbar ewig. Ein grandioser Trost. Und ein grandios modernes, authentisches Spiel. Bisweilen erinnern Grimauds hörbare Atmer gar an Glenn Gould.

Wo sie zu Beginn gewesen sei, fragen wir am Ende, und die Entourage spitzt die Ohren. Duschen, antwortet Hélène Grimaud lachend, im Hotel würde heute ab 23 Uhr das Wasser abgestellt. Baumaßnahmen am nahe gelegenen Ostbahnhof. Soviel zu Luftgeistern und Diven.

Christine Lemke-Matwey

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