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Kultur: „Ich habe immer Mitspieler gesucht“

Nichts fasziniert Stefan Moses so sehr wie die Deutschen. Zwei Ausstellungen würdigen ihn zum 75. Geburtstag

Herr Moses, was macht einen großen Fotografen aus?

Der Kanzler hat gesagt, es gebe nur schlechte und gute Fotografen. Ich selbst bin ratlos.

Hilft es, wenn man pünktlich ist?

Nein, es hilft einem kein Gott.

Sie sind zu spät gekommen?

Ich war nie pünktlich. Ich kam immer 15 Minuten zu früh.

Wie war die Reaktion?

Säuerlich.

Sie haben als Reportagefotograf begonnen. Aber die Fremde hat Sie nicht gelockt. Warum haben Sie in Deutschland Ihr Lebensthema gefunden?

Wie sagt man – „fremd ist der Fremde nur in der Fremde“. Ich wollte nach Hause, lernte Europa lieben und blieb in Deutschland. Hier bin ich zu Hause in diesem schwierigen deutschen Paradies mit den ständig wachsenden Families of Germans. Es ist einfach das interessanteste Land der Welt.

Deutschland wurde nach 1945 zur klassenlosen Gesellschaft. Hat das Ihre Sicht beeinflusst?

Klassenlos? Ja, aber nur für 14 Tage. Danach gab es sie doch wieder: Heiden und Christen, Schwarze und Weiße, Linke und Rechte, Juden und Muslime, Reiche und Arme, Vernetzte und Nichtvernetzte, Analoge und Digitale. Das sind mehr Klassen als in England.

Eine Zeit lang haben Sie ganz normale Bürger, Passanten und Arbeiter vor einen hellen Vorhang gestellt. Wonach haben Sie bei diesem Experiment gesucht?

Ich begann 1962, West Menschen auf das später so berühmte graue Filztuch zu bitten. Wobei ich anfing, unbekannte Deutsche für eine Art „Berufstypologie der kleinen Leute“ aufzunehmen. 1989, als die Mauer fiel, habe ich daran angeknüpft. Ich besuchte unsere Brüder und Schwestern in der DDR und stellte nun Menschen aller Klassen auf die schützende Tuchinsel, Politiker und Dissidenten ebenso wie Agrotechniker und NVA-Soldaten. In der Berliner Retrospektive hängen sie nun erstmals nebeneinander - Ost und West vereinigt. Aber ich habe gefunden, dass es ein kollektives Gesicht der Ost-West-Gesellschaft gar nicht gibt. Jeder Einzelne ist ein einmaliger Typ.

Die Porträts knüpfen an August Sander an. Führen Sie dessen typologische Anthropologie fort?

Ach, der große Sander war doch mehr Schmetterlingssammler und begnadeter Botaniseur. Er hat ein Weltkunstwerk geschaffen, auch wenn sein Goldrand-Gesellschaftsmodell verschweigt, dass jeder Mensch ein einmaliges Wesen ist. Nein, so unglaublich es klingen mag: In den späten Fünfzigerjahren waren es amerikanische Pioniere wie die großen Irving Penn und Richard Avedon, die mich beeinflusst haben. Sie gaben mir den Kick, auf die eigenen Nachbarn zu schauen.

Warum sehen die Dichter, Philosophen und Intellektuellen auf Ihren Bildern meist furchtbar ernst aus?

Das ist mir auch ein Rätsel. Aber wenn sie lachen würden, wäre das noch schlimmer.

Auch Theodor W. Adorno, den Sie in seinem Büro vor einen Spiegel setzten, damit er sich selbst fotografiert, sieht nicht gerade heiter drein. Worüber haben Sie sich mit ihm unterhalten?

Zuerst über den von C & A geliehenen Anprobespiegel, der für das „Selbsporträt im Spiegel“ hereingerollt kam. Dann redeten wir über Alexander Kluges ersten hochbedeutenden Kurzfilm „Brutalität in Stein“. Kluge war damals, 1963, junger Justiziar des Horkheimer-Adornoschen „Instituts für Sozialforschung“ und hatte sich mit der Geschichte der stehen gebliebenen Nazibauten in der Münchner Meisterstraße beschäftigt. Das „Selbst“-Bildnis zählt mittlerweile zu den Ikonen der Serie. Der kleine Mann, der Spiegel, die Kamera, das hat einen surrealen Zauber. Lange bezweifelte man allerdings, dass Adorno sich selbst fotografiert hatte.

War dieses Spiegel-Experiment der Versuch, sich als Fotograf selbst abzuschaffen?

Nein, es ging vielmehr um eine luzide Neudefinition: Der Fotograf gibt den Spiegel, aber er löst ihn nicht auf. Die Betroffenen hatten einen Fernauslöser in der Hand. So entstanden Bilder, die wunderbar den Novalis-Satz erklären: „Jeder Mensch ist eine kleine Gesellschaft.“ Die Begegnung mit dem unbekannten eigenen Wesen, die Zusammenfassung einer Lebenssituation in einer Sechzigstelsekunde, das kann wirklich nur die Fotografie. Obwohl der Dialog mit sich selbst die ironisch-dialektische Fortsetzung des alten Selbstporträts in der Malerei ist. Das ging sogar soweit, dass Verlage mich immer wieder nicht bezahlen wollten mit der Begründung, ich hätte die Fotos ja gar nicht gemacht.

Gab es Menschen, an die Sie nicht herankamen, die sich Ihnen verschlossen?

Ja, Hans Jonas, der deutsche Philosoph aus Kalifornien. Ich wollte ihn im Rahmen einer Arbeit porträtieren, bei der ich Zeitzeugen der Geschichte zwischen Bäumen im deutschen Wald aufnahm. Ich erzählte Jonas, wen ich bereits überredet hatte, Herbert Wehner, Helmut Schmidt und andere auratische Geistesmenschen . Da wollte er nicht mehr und zog seinen Mantel wieder an.

Wie wichtig war Ihnen, sich mit dem anderen geistig verbunden zu fühlen?

Fotografieren ist ja eine Art Analyse. Man sitzt mit dem anderen auf der Psychocouch, beide Patienten nagen aneinander. Da ist man auf die wohlwollende Bereitschaft angewiesen, sich den short cuts der gemeinsamen Kulturerfahrung zu öffnen. Das Wissen, dass letztlich nichts wirklich ist, verbindet.

Sie haben auffällig wenig Personen der High Society, Manager und Prominente fotografiert? Interessieren Sie die Reichen und Schönen nicht?

Oh, nein, mich interessieren alle Menschen. Was wollen sie? Was tun sie? Wohin gehen sie? Auch schöne Reiche sind darunter.

Sie neigen zu theatralischen Szenerien. Wie stark hat sich Ihre Tätigkeit als Theaterfotograf auf Ihre spätere Karriere ausgewirkt?

Aber die ganze Welt ist eine Bühne ! Ein Gespür für Figurenkonstellationen, für dramatische Höhepunkte zu erwerben, war mein Seminar fürs Alltagstheater und seine Choreographie des Augenblicks. Auch der große Josef Koudelka, der in den Fünfzigerjahren am Prager Theater arbeitete, hatte diesen Sinn für theatralische Situationen. Eine gute Show abzuliefern, ist eine herkulesische Arbeit des spielenden Menschen.

Sie sehen sich als Spieler, der seine Umwelt mit ungewöhnlichen Aufgaben überrascht?

Ich habe immer Mitspieler gesucht. Und gefunden.

Wie kam es zu der „Masken“-Serie, bei der Sie vor allem Künstler dazu verleiteten, sich ein zweites Gesicht zu geben?

Hier ging es mir um die verlorene Magie der Kindheit. Die Sehnsucht nach Verhüllung, aber auch danach, etwas, das sonst verborgen bleibt, frei zu lassen. So sind die surrealen Masken in den Ateliers von Picasso, Gris, Kirchner und Schmidt-Rottluff bis heute ein gemalter Sog. Die bildenden Künstler haben das Maskenmachen alle mit großem Elan praktiziert.

Warum gibt es von Ihnen selbst nur ein Bild, auf dem der größte Teil Ihres Antlitzes gar nicht zu sehen ist?

Ach, wissen Sie, alte Fotografen lassen sich nur ungern knipsen.

Wenn Sie auf Ihr Leben und die 400 000 Negative zurückblicken: Was haben Sie versäumt?

Als Bildermacher habe ich mich permanent auf Reisen befunden. Zu viele Bilder wollten heraus. Kurz gesagt: Ich habe zu viel fotografiert, zu wenig gelebt. Zu spät. Mein Jahrhundert von Schwarzweiß ist vorbei.

Sie werden am 29. August 75. Was würden Sie gerne nachholen?

Nichts, oh himmlisches Jerusalem, die Summen aller Missverständnisse waren schon zu viel. Das Leben ist schön, aber nicht fair.

Die Fragen stellte Kai Müller

Stefan Moses: „Retrospektive“, im Willy- Brandt-Haus (Stresemannstr. 28) bis 16. Oktober, Di-So 12-18 Uhr.

„Die Zweite Natur wird kenntlich" - Künstlerfotografien von Stefan Moses in der Villa Grisebach (Fasanenstr. 25) vom 25. August bis 27. September, Mo-Fr 10-18 Uhr 30, Sa 10-14 Uhr.

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