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Kultur: Ich mach dich tot

„Nicht Chicago“ im Theater an der Parkaue.

Wenn man vom Teufel spricht, dann glaubt einem keiner. Karl, der neue Junge in der Klasse, ist ein kalter Fiesling, durch und durch böse. Niklas hat ihm nichts getan, begegnet ihm offen, und trotzdem wird er zur Zielscheibe von dessen willkürlichen Attacken. Erst klaut Karl den MP3-Player von Niklas’ Schwester. Dann den Laptop des Vaters. Er sprüht Niklas Reizgas in die Augen und überfällt ihn auf dem Fahrrad mit dem Messer. Und schließlich beginnt er auch noch mit Telefonterror – eine Eskalation vom bösen Streich zum handfesten Bedrohungsszenario. Niklas, ein schlechter Schüler an der Schwelle zur Pubertät ohne Anschluss in die Klasse, hält zu lange den Mund, verschweigt die Vorfälle. Und als er dann versucht, mit den Erwachsenen zu reden, hört er von allen Seiten: Das können wir uns nicht vorstellen, hier ist doch nicht Chicago. Oder auch: Niemand tut so was ohne Grund, was hast du denn angestellt? Das Opfer bleibt allein. Für Irrationales ist kein Platz in der Elternwelt.

Kirsten Boie, Schöpferin etlicher erfolgreicher Kinder- und Jugendbuchreihen (von „King-Kong“ bis „Ritter Trenk“), hat ihre beklemmende Mobbingerzählung „Nicht Chicago. Nicht hier.“ schon 1999 geschrieben. Sie wirkt kein bisschen veraltet, leider. Die Adaption von Michael Müller, die Regisseur Kay Wuschek als Uraufführung im Theater an der Parkaue inszeniert hat, bringt bloß ein paar technische Details auf den jüngsten Stand. Aus einem CD-Rom-Laufwerk macht die Fassung den Laptop, Niklas wird jetzt ein Handy geraubt und vor seinen Augen zerstört, kein Pager. Okay, die aktuellste Dimension des asozialen Kesseltreibens bleibt unberücksichtigt: das Cybermobbing, das die Jugendlichen dem anonymen Shitstorm im Netz aussetzt und in der Realität beklagenswerte Boulevardschlagzeilen produziert à la „Junge (13) auf Facebook gemobbt: Suizid!“ Aber an den Strukturen der Hetze hat sich nichts geändert. An der menschlichen Natur auch nicht.

Parkaue-Intendant Kay Wuschek schickt seinen großartigen Niklas-Darsteller Johannes Hendrik Langer in ein Labyrinth aus Rasenquadern (Bühne: Florent Martin), in dem er sich zu verlieren droht. „Ich mach ihn tot“, zischt Niklas atemlos, während er sich die Wut aus dem Leib zu springen versucht: Rachefantasien als Ausdruck größter Ohnmacht. Paul Mareschs Karl dagegen ist ein cooler Dämon im schwarzen Anzug, stilisiert zum Mephisto des Pausenhofs, zugleich sehr präsent und greifbar als Strippenzieher eines finsteren Spiels, zu dem er noch weitere Klassenkameraden anstiftet. Ist es Schwarz-Weiß-Malerei, einen Jungen zu zeigen, der nichts als grausame Absichten hat? Mag sein, aber die Wirklichkeit spart bisweilen auch an Farbe. Und genau darum geht es Boie: das Fatale des Appeasements zu zeigen, das die Eltern und auch die Lehrerin (Elvira Schuster) in totaler Verkennung der Verhältnisse betreiben. „Dieses Kalte, das ist Karls Art, Schutz zu suchen“, bemüht sich die Pädagogin um Verständnis. Manchmal aber gibt es Gut und Böse, Opfer und Täter, und nichts dazwischen.

Niklas’ Mutter und Vater (hervorragend zwischen annehmendem Kumpelton und überforderter Keiferei: Danielle Schneider und Stefan Kowalski) kommen erst spät hinter diese traurige Wahrheit. Wuscheks Inszenierung ist pointiert, schnell und auf erschütternde Weise mitreißend. Ein Lehrstück über das Mobbing in 90 Minuten, freilich ohne Moral. Am Grips-Theater wäre „Nicht Chicago. Nicht hier.“ schon deswegen vermutlich nicht auf die Bühne gekommen, was ganz wertfrei gemeint ist. An der Parkaue wird man mit einer großen Ungewissheit entlassen. Nachdem die Eltern endlich bereit waren, Niklas zu glauben, laufen sie selbst vor die Wand. Bei Karls Mutter und Vater, die ihren Sohn blind in Schutz nehmen. Und auch bei der Polizei (in Gestalt von Lutz Dechant), wo sie zu hören bekommen: Es ist ein Bagatellfall. Unternommen wird nichts. „Es kann doch nicht sein, dass man völlig machtlos ist!“, empört sich Niklas’ Vater. Oder doch? Nach dem Theater muss das Gespräch mit den jungen Zuschauern dringend weitergehen. Diskussionsstoff gibt es genug.

Patrick Wildermann

wieder am 15. und 18. Juni.

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