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Kultur: Ich schau dir in die Augen, Göttin

Wehe, wenn die alles sehenden Götter Indiens nur für einen Wimpernschlag ihre Augen schließen! Keine geringere Katastrophe als der Weltuntergang wäre die Folge, bei dem das ganze Universum in Dunkelheit versinkt.

Wehe, wenn die alles sehenden Götter Indiens nur für einen Wimpernschlag ihre Augen schließen! Keine geringere Katastrophe als der Weltuntergang wäre die Folge, bei dem das ganze Universum in Dunkelheit versinkt.Eines der wichtigsten, alltäglich praktizierten Rituale im Hinduismus ist der Blickkontakt, die visuelle Kommunikation mit den Göttern, "Darshan" genannt (Sanskrit: "Sehen").Die Gläubigen richten ihren Blick auf das Kultbild, versenken sich in das tiefere Wesen der Gottheit, schöpfen daraus Energie und vergewissern sich ihrer Gnade.Zugleich ist wesentlich, von den Göttern gesehen zu werden.Anders als in den Buchreligionen Judaismus, Christentum und Islam steht im Hinduismus nicht das Wort, sondern das Bild, die Anschauung der Götter in ihren Bildnissen im Mittelpunkt.

"Darshan - Blickkontakte mit indischen Göttern" ist die erste Ausstellung des Museums für Völkerkunde in den nach Auszug der Skulpturensammlung freigewordenen Räumen in Berlin-Dahlem.Mit zweihundert Objekten stellt sie nie zuvor gezeigte, ländliche Götterfiguren, dörfliche Kultschreine und häusliche Altäre vor.

Die Stücke stammen überwiegend aus dem 19.und 20.Jahrhundert und eigenen Beständen.Kultgegenstände wie die gezeigten sind bis heute in Gebrauch.In den ländlichen Regionen des ausgedehnten Subkontinents entstand eine immense Vielfalt eigenständiger Lokalgottheiten und Kultformen.

Anders als bei den Bildnissen der klassischen, orthodox brahmanischen Hochkultur existiert für sie kein strenger Formenkanon.Regionale Künstler haben alle Freiheiten, eigene Kunstformen und Stile zu entwickeln.Entsprechend eigenständig, oft originell und farbenfroh sind die Götterbilder.

Viele Inder sehen in einem unbehauenen, natürlichen Stein das ideale, aus sich selbst geschaffene Götterbild.Ihm werden Augen aufgemalt oder kunstvolle Masken vorgeblendet.Göttinnen sind blutrot, Symbol für elementare Kraft und Vitalität.Man brachte ihnen vielfach Menschenopfer, bis die britische Kolonialverwaltung dies verbot.

Heute begnügen sie sich mit rotem Pigment und Wasserbüffeln.Nicht nur weibliche Gottheiten gelten als schön, aber gefährlich, wenn man sie vernachlässigt.Sie sind anspruchsvoll und wollen gebadet, bekleidet, mit Duftölen gesalbt und Blumen umkränzt werden.Man muß sie bedienen, ihnen nach dem Essen Mittagsschlaf gönnen und sie abends zu Bett bringen.In Bastar stellt man vor Tempeln kunstvolle Schaukeln zu ihrem Vergnügen auf, in Hausschreinen Miniaturen davon.

Eine besondere Rarität sind bronzene Kultfigürchen der Malia-Kondh im entlegenen Bergland von Orissa.Ihre kunstvollen, abstrakt stilisierten Figuren - Tiergaben und Geisterwesen für die Erdgöttin Tara-Penu - erinnern an Arbeiten von Picasso oder Giacometti.

Erst Mitte der 80er Jahre gelangten Exemplare in den Kunsthandel und sorgten bei internationalen Ausstellungen für Aufsehen.Eine Expedition brachte bereits vor einem Jahrhundert die einzigartigen Bestände des Museums für Völkerkunde nach Berlin.

Jetzt erst wurden die Schätze, die einst als "primitiv" galten, im Fundus gehoben.Die Konstanzer Indologin und Ethnologin Cornelia Mallebrein betrieb vor Ort in den entlegenen Regionen Feldforschung und klärte die zuvor vielfach unbekannte Bedeutung der Stücke innerhalb des religiösen Brauchtums.Ihre in die Ausstellung integrierten Fotodokumente stellen die Museumsobjekte in ihren Alltagskontext und machen das soziale und kulturelle Umfeld der Kultbilder anschaulich.

Die Sora verehren keine hinduistischen Gottheiten, sondern pflegen Ahnenkult.Tranceerfahrene Medien nehmen zu ihnen Verbindung auf.Ihre Visionen werden in Wandbildern fixiert, die den Krankheiten bringenden wie heilenden Vorfahren eine Heimstatt bieten.Die Sora vertrauten der Wissenschaftlerin Objekte eines solchen häuslichen "Altars" an, der nie zuvor auf Reisen ging.

Für diese Installation am Ende der Sonderschau gaben die Dorfbewohner ihren Vorfahren große Mengen Proviant und selbst einen Regenschirm als geschätzte (und in Berlin nützliche) Gabe mit.Man zählt zudem viele Schnabelkännchen für Mahua-Schnaps, die familiären Schutzgeister trinken nämlich gern Alkohol und sollen auch in der Fremde nicht darben - es gilt, sie immer und überall bei Laune zu halten.Diesen Anspruch tat auch das Museum gegenüber seinen Besuchern kund.Trotz Umbaus und ständig wechselnder Teilschließungen der Sammlung wolle man verstärkt mit Ausstellungen und Sonderveranstaltungen zeigen, daß der vielfach totgesagte Museumsstandort Dahlem eine "quicklebendige Leiche" sei.So werden jeden letzten Sonntag im Monat, 14.30 Uhr, kostenlos Führungen ins Magazin angeboten.

Museum für Völkerkunde in Dahlem, Lansstr.8, bis Sommer 1999; Dienstag bis Freitag 10 - 18 Uhr, Sonnabend und Sonntag 11 - 18 Uhr.Ein Katalog erscheint im Herbst, 28 DM.

ELFI KREIS

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