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Kultur: Ich träum dich

KINDERFILMFEST und 14 PLUS: Sommerferien, Karneval und erste Liebe

Rumpffamilien, Ersatzfamilien, Kleinfamilien, Nichtfamilien. Dass das Kinderfilmfest sich dieses Mal so stark um das Thema Familie dreht, ist ein Zufall, erklärt Thomas Hailer, Leiter der Festivalreihe. „Wir setzen uns nicht vorher hin und klären, was ist das Thema des Jahres.“ Der Schwerpunkt kristallisiere sich erst beim Sehen heraus, oder danach, oder manchmal gar nicht, so Hailer. Das war im letzten Jahr mit dem Thema Krieg so, in Filmen wie „Schildkröten können fliegen“ oder „Innocent Voices“.

Diesmal also: Familie. Nur scheinbar ein kindgerechteres Thema als Krieg. Doch Krieg herrscht oft genug auch in diesen Familien. Selbst in der heilen Welt der schwedischen Sommerferien haben die Familienmitglieder in Anders Gustafssons Kinderkomödie „Percy, Buffalo Bill & Jag“ seit Jahren nicht mehr miteinander gesprochen. Von Familienzerrüttung erzählt auch der Märchenklassiker „Hänsel und Gretel“, den Anne Wild neu verfilmt hat: der Vater verarmt und hilflos, die Stiefmutter hartherzig, Hänsel und Gretel auf sich gestellt, in einem unendlich großen, düsteren deutschen Wald. Und Sibylle Canonica, die große Münchner Theaterschauspielerin, als neurotische Hexe: ein Gruselfilm.

Eltern, auf die man sich nicht verlassen kann: In Niels Arden Oplevs „Drømmen“ (Der Traum) ist der Vater psychisch krank, nicht in der Lage, den Sohn vor Zugriffen eines tyrannischen Direktors zu schützen. Ein Schul- und Autoritätsdrama in der dänischen Provinz von 1969, während in Kopenhagen die Flower-Power-Jugend demonstriert und der ermordete Martin Luther King zum Vorbild wird. Und noch ein schwacher Vater: In Peter Cattaneos wunderbarem Eröffnungsfilm „Opal Dream“ sucht der Vater in den australischen Opalminen erfolglos nach Glück und Reichtum. Er gerät in Verdacht, andere Minenarbeiter bestohlen zu haben, während der Sohn zum Beschützer der Familie wird. Denn die kleine Kellyanne ist überzeugt von der Existenz zweier Spielfreunde, die außer ihr keiner sieht, erkrankt daran, dass keiner ihr glaubt, und findet erst Ruhe, als ihr Bruder den Verschwundenen ein würdiges Begräbnis inszeniert, dem das ganze, sonst feindliche Dorf beiwohnt.

Wenn man so will, ist selbst der harmloseste, vergnüglichste Kinderfilm ein Familienproblemfilm: Gernot Rolls wunderbar besetzte Neuverfilmung von Otfried Preußlers „Der Räuber Hotzenplotz“ erzählt davon, dass Kasperl und Seppel die entführte Großmutter wieder befreien – von Eltern ist im ganzen Film nicht die Rede. Dafür gibt es aber Rufus Beck als aalglatten Zauberer, Katharina Thalbach als verführerische Weissagerin und Armin Rohde, bis zur Unkenntlichkeit verwandelt, als Räuber Hotzenplotz: Rohde wird am Freitag Nachmittag im Zoopalast das Kinderfilmfest eröffnen. Dass der im besten Sinne populäre Film ab fünf Jahren auf der Berlinale läuft, ist ein großer Erfolg – für den deutschen Kinderfilm wie für die Festival-Reihe.

Andere Filme führen weit weg, in fremde Länder, die so fremd dann doch nicht sind: nach Uruguay zum Beispiel, wo der kleine Obdulio in „A dios Momo“ als Zeitungsbote arbeitet und mitten in der bizarren Welt des uruguayischen Karnevals einen väterlichen Freund findet. Einen Freund findet auch Maximo Oliveros, im wohl sensibelsten Film „Ang Pagdadalaga ni Maximo Oliveros“ (Maximo Oliveros blüht auf): Der zwölfjährige Maxi (herausragend: Nathan Lopez) lebt mit Vater und Brüdern allein, kocht und putzt oder posiert auf der Straße mit Spängchen im Haar und laszivem Hüftschwung. Kindliche Transsexualität, ganz selbstverständlich gezeigt, die erst dann zum Problem wird, als sich Maxi mit dem jungen Polizisten anfreundet, der den kleinkriminellen Brüdern auf der Spur ist.

In „Doodh aur Apheem“ (Milch und Opium) verlässt Swaroop mit seinem Onkel das Heimatdorf. Nach einer langen Odyssee landet der junge Musiker in der Stadt, die längst nicht mehr traditionell indisch, sondern westlich geprägt ist, mit Wohnblocks, Shopping Centern und Country-Musik. Irgendwann steht Swaroop in einer Telefonzelle und meldet stolz nach Hause: „Ich habe Arbeit gefunden. Komme heim, wenn ich genug verdient habe“. Er ist erwachsen geworden.

Der Sprung zum Erwachsensein gelingt den meisten Protagonisten in der vor drei Jahren neu geschaffenen Jugendreihe „14 plus“ locker. Seien es junge Liebende in Leila Marrakchis schönem Debüt „Marock“, er Jude, sie Muslimin, die wie Romeo und Julia die High-Society in Casablanca verstören. Oder die 15-jährige Magdalena in Wash Westmorelands und Richard Glatzers gerade in Sundance gefeiertem Film „Quinceanera“, die ungewollt schwanger wird und in eine schräge WG mit ihrem Onkel und einem schwulen Cousin zieht. Ausgestoßene allesamt, die erst langsam zueinander finden. Eine eigentümliche WG zeigt auch der Eröffnungsfilm „Women Liang“ (You and Me) von Ma Liwen aus China: eine junge Studentin zieht bei einer alten Dame ein. Über den Streit um Stromkosten, Lärm und Telefonbenutzung finden die beiden langsam zueinander.

All diese Filme könnten genauso gut auch im Forum oder im Panorama laufen – wie umgekehrt mancher Forums- oder Panoramafilm gut ins „14 plus“-Programm passen würde. Thomas Hailer lädt daher, eine Neuerung in diesem Jahr, je einen Film aus einer anderen Sparte zur Sondervorführung ein. Ein Appetizer für die Jugendlichen, denen bald das ganze Festival offen steht.

Christina Tilmann

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