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Kultur: Ich war auch mal jung

Was war vor der Generation Golfkrieg? Sechs Autoren zwischen 69 und 29 erzählen, was sie geprägt hat – und was ihre Generation von den anderen unterscheidet

Wenn ich das Wort Generationen höre, werde ich ganz schwermütig, weil mir, obwohl das gar nicht möglich ist, das Zugehörigkeitsgefühl (uff! Was für ein Wort) fehlt. Ich gehöre keiner Generation an – eigentlich.

Da ich in den letzten Kriegsjahren schon marschieren, Marschliedersingen, Strammstehen und mit hochgerissenem rechten Arm den deutschen Gruß (Heitler!) rufen konnte, müsste ich eigentlich zur Flakhelfer-Generation gehören, aber ein paar Jahre bin ich für die „Katz und Maus“-Altersgenossen zu jung und so kam ich zwar mit Luftschutzkeller-Erfahrung, aber ohne Flak-Dienst aus dem Krieg. Zu jung! Pech gehabt! Schwein gehabt! Nicht bei der „Nie wieder Krieg!“-Generation und später auch nie in Mutlangen. Das zweite Pech (das ich allerdings nachträglich als Riesenglück empfinde): Ich war für die 68er Generation zu alt. Mein Bruder Horst war ’68 29 Jahre alt, er passte voll rein und fast hätte mich sein Schwung mitgerissen. Aber einerseits hatte ich schon einen Beruf, war Journalist und konnte deshalb bestenfalls als Sympathisant mitdemonstrieren. Und andererseits hieß der 68er Slogan: Trau keinem über dreißig. Und so haben weder die 68er mir noch ich ihnen ganz getraut.

Und irgendwie bin ich ganz froh, dass ich nicht mit der Mao-Bibel und unter Ho-ho-ho-tschi-Min-Rufen mitgezogen bin zum Frankfurter Römer. Wenn ich denke, dass die damals meine Sympathie hatten (nur von heimlichen Zweifeln beschlichen), dann fällt mir ein, dass Mao beim „großen Sprung“ etwa 20-40 Millionen Menschen hat mitspringen lassen, in den Tod nämlich, und bei der Kulturrevolution noch mal zwei bis drei Millionen, milde geschätzt. Und von Reue habe ich nichts gehört. „Faschistisch“ oder „faschistoid“, das waren nur die amerikanischen Präsidenten, Nixon und so. Beide Bushs. Und dass man sich mit den Palästinensern verbündete und ihre Feudel trug – na gut, das mag als Generationsromantik durchlaufen. Aber dass in Mogadischu Juden „selektiert“ wurden, beim Aussteigen aus der entführten Maschine – das hat inzwischen auch Joschka Fischer in Zweifel gestürzt und zur Abkehr bewogen.

Nicht so die alten Kämpfer Walsergrassnegtbissingerstaeck, die sich schon damals etwas überaltert den Ho-tschi-Min-Truppen an den Hals geschmissen haben, jetzt, noch mit Glatze oder eisgrauer Mähne, wissen sie, dass Saddam harmlos ist im Vergleich zu Bush. Nein, auch dieser hartleibigen Generation, die nicht einmal aufatmet, wenn die Iraker sichtbar, greifbar, nach 35 Jahren erstmals eine Ahnung von Freiheit spüren. Dann schon lieber ohne Generation, und lieber was gelernt haben. Zu guter und zu schlechter Letzt.

Es sind alle Geschichten bis zum Überdruss erzählt worden. Keine andere heute lebende Generation hat über sich selber so ausführlich berichtet. Und so lustvoll. Geboren in den 50er Jahren? Die Demonstrationen. Die Musik. Die Drogen. Die sexuelle Revolution. Der Glaube an die Zukunft. Der Optimismus.

Die Alten vor uns hatten ihre Schuld, die Jungen nach uns haben ihre Ratlosigkeit. Wir in der Mitte hatten ein gutes Gefühl. Wir waren die Guten. Wir waren uns unserer moralischen Überlegenheit sicher, fast so sicher wie heute George W. Bush.

Das politische Schlüsselerlebnis dieser Generation: Die Autoritäten fallen sofort um, wenn man nur ganz leicht pustet.

Wir hatten einen Deutschlehrer, Dr. Kotsch. Er war ein kleines graues Männlein mit großer Nase. Er liebte die Literatur, ein Schöngeist, ja, das war er, mit den politischen Kämpfen dieser Epoche konnte er nichts anfangen. Wir waren eine ziemlich wilde Truppe, aber Dr. Kotsch hielt nichts von Disziplinarmaßnahmen. Sie hätten bei ihm nur lächerlich gewirkt, so klein, grau und großnasig, wie er war. Er setzte sich an sein Pult, las vor oder dozierte, mit einer leisen Stimme, die höchstens noch in der vierten Reihe zu verstehen war. Was im Klassenzimmer vorging, ignorierte er. Man konnte mit Schwämmen werfen, laut die Internationale singen, ganz offen schlafen, das Zimmer verlassen, egal. Dr. Kotsch redete immer weiter, und wenn das Klingelzeichen kam, stand er auf, packte seine Sachen, nickte zum Abschied und ging. Er beschwerte sich nie. Es war nicht die kumpelhafte Permissivität der 80er Jahre, es war eine Mischung aus Resignation und Stolz. Der Gegner – wir – war übermächtig, das wußte er. Aber er sagte, was er zu sagen hatte, er gab nicht auf. Nach einer Weile hatte die Klasse sich an ihn gewöhnt. Es war in seinem Unterricht sogar relativ ruhig. Man las „Bravo“ oder „Spiegel“ oder spielte Karten, aber nicht mehr laut, um ihn zu provozieren, sondern einfach so, ganz entspannt. Ein paar Leute setzten sich sogar hin und wieder nach vorne zu den drei Mädchen, unseren Streberinnen, und hörten ihm zu, wie er über Goethe oder Thomas Mann sprach. Er war ein kluger Mann. Man hätte sicher einiges von ihm lernen können, aber, wie gesagt, der Zeitgeist war nicht danach, und Dr. Kotsch war einfach zu schwach. Er war kein Gegner für Helden wie uns. Harald Martenstein, 49 Jahre

Klarer Fall: Schuld ist die CDU. Eine grotesk überdimensionierte Bleistiftspitze hat sich, dem Gerücht zufolge, in die Hand von Katrin gebohrt, und jetzt blutet sie. Auf dem Stift steht groß „CDU“: Ein Wahlwerbegeschenk des Unionskandidaten, zugleich ein Geständnis des Täters. Das passt. Wir sind zehn und schwer empört. Typisch. Jetzt wollen sie sich rächen! Denn wir hatten uns längst entschieden.

Ein gutes halbes Jahr zuvor, April 1972: Willy Brandt liegt hinten, ist ein Außenseiter im Endspiel. Der Fernseher läuft, die Stimmung ist gedrückt. Was ist eigentlich ein Misstrauensvotum? Plötzlich: infernalischer Krach, totales Durcheinander. Ich kapiere nichts, aber – es muss gut gelaufen sein. Alles jubelt! Ich auch.

„Willy wählen“ steht auf den ersten Badges, die ich sehe. Coole Typen tragen das. Müllers gegenüber nicht. Der Vater ist ja auch Zahnarzt. Verwandtschaftsbesuch im Osten, wir bringen Kaffee und ein T-Shirt mit. „Deutschland wird Fußball-Weltmeister 1974“ ist darauf zu lesen. Großcousin Karsten soll dem Lehrer sagen, welches Deutschland er meint. Er sagt, na Deutschland eben. Falsche Antwort, das gibt Ärger. Rudi Carrell besingt den miesen Sommer und sagt, die SPD sei schuld. Blödmann. In Holland stehen kleine Jungs am Straßenrand und recken ihren Arm hoch, wenn sie unser Kennzeichen sehen. Blödmänner, sagt mein Vater. Da will ich nicht mehr hin.

1977 läuft Sid Vicious mit einem Hakenkreuz auf dem Hemd herum, und auf dem von Joe Strummer steht „Brigade Rosse“. Alles regt sich auf. Wie schön. Im selben Jahr stirbt die RAF. Ich bin gerade in Paris und sitze mit Oma, die da schon immer mal hinwollte, und ganz vielen anderen Rentnern im Univers-Reisebus. Da kommt im Radio die Nachricht über die Toten von Stammheim. Alle springen auf, umarmen einander, klatschen, jubeln, rasen. Wie fremd. So wären die zu allem fähig.

Helge Malchow, heute Geschäftsführer von Kiepenheuer & Witsch, damals unser Deutschlehrer, schleppt uns ins Theater: Brecht, was sonst. Und nochmal Brecht. Und was das nun wieder bedeutet. (Der älter gewordene Malchow verlegt dieser Tage übrigens Maxim Biller und erklärte gerade zum Esra-Skandal, es sei nicht seine Aufgabe, sich beim Lesen von Romanen die Frage nach der Übereinstimmung mit der Wirklichkeit zu stellen; auch eine Aufgabe, gewissermaßen.)

Mai ’80, in Berlin brennt die Luft. Die ganze Stadt ein Abenteuerspielplatz. Mai ’81, in Paris feiern die Sozialisten. Bettys Vater freut sich nicht; das sei schlecht für seine Boulangerie, sagt er. Maman hat trotzdem Mitterrand gewählt. Ein Nazi kommt auf unsre Schule. Der ist schon älter, fährt im Kübelwagen vor und ärgert die Malchows. Mit Klaus vom KBW versteht er sich ganz prima. Heike sagt, ihr Vater sei zwar bei der FDP, aber trotzdem ganz in Ordnung. Beate ist schon raus aus der Schule. Mit 18 hat sie einen Makler im Bett und wählt gleich CDU. Was soll man sonst wählen, wenn man Geld hat, sagt sie. Wir fahren nach Essen, in der Grugahalle spielt Pete Townshend. People try to put us d-down. Talkin’ ’bout – my generation?

Lorenz Maroldt, 41 Jahre

Frau Schlick war die Schärfste. Ihre Stöckelschuhe hinterließen auf den Wegen durch unsere Wohngegend Markierungen, denen wir verstohlen folgten. Und jedes Mal trauten wir uns irgendwann nicht weiter, weil dort, wo Frau Schlick hinstöckelte, etwas nicht in Ordnung war. Man sah ihr ja schon an, dass sie in Richtung Unordnung unterwegs war, so jedenfalls redeten die Leute. Wir vermuteten die verräterischen Details dort, wo Kinder nicht hinsehen konnten, obwohl einige von uns schon fast einsachtzig waren. Möglicherweise war Frau Schlick ein böser Zauber. Oder ansteckend. Sie hatte sich scheiden lassen. Sie war eine Bombe, unter der alles detonierte, was gang und gäbe war.

Zunächst war die Sache sehr traurig gewesen. Tobi Schlick hatte eines Morgens zusammengeknüllt in seiner Bank gesessen und kein Wort gesagt. Niemand hatte irgend etwas gesagt, was auch, wir wussten ja nicht, was passte. Tobi Schlick war das erste Scheidungskind, das wir kannten. Fast acht Jahre lang war er der blonde Lockenkopf auf unseren Klassenfotos gewesen, jetzt fiel er aus dem Rahmen. Er bekam Hausaufgaben erlassen. Lehrerhände tätschelten nach seinen Wangen. Der Direktor schob den Jungen an beiden Schultern durch die Hofpause, als ob es darum ging, dass Tobi die richtige Spur hielt.

„Meine Mutter“, sagte Tobi Schlick fortan. Wir zuckten dann zusammen und dachten an das Schicksal, das ihn ereilt hatte. Bald jedoch – wir hatten uns an den Klang von „meine Mutter“ gewöhnt – bekamen die zwei Worte einen Geschmack. Wir flüsterten sie vor uns hin, ließen sie auf unseren Zungen zergehen. Sie schmeckten gar nicht so schlecht. Im Gegenteil. Sie hatten ein Aroma. Es machte süchtig.

„Meine Eltern“ war absolut fad, verglichen damit, wie „meine Mutter“ schmeckte. Die Beschaffenheit von „meine Eltern“ war die von nicht abgeschreckten Nudeln. „Meine Mutter“ hingegen, das waren Bratkartoffeln aus rohen Kartoffeln, dazu geröstete Nüsse und viel Ketchup. „Meine Mutter“ war einfach anders. Und Tobi Schlick, der zuweilen tief gebückt herumlief, so als wäre er um einen ganzen Kopf – den Kopf seines Vaters – kleiner geworden, war in unseren Augen plötzlich gewachsen. Er konnte über die gewöhnlichen Aussichten, die wir hatten, hinwegsehen.

Unsere Eltern veranstalteten Elternversammlungen. Sie trafen sich in kleineren Runden hinter verschlossenen Wohnzimmertüren zum Elternaktiv. Unsere Eltern verkleinerten ihre jeweiligen Unterschriften, damit die des anderen auch noch auf die Zeile passte; eine Unterschrift allein war nichts wert. Unsere Eltern trugen Ringe, die im Laufe der Jahre mit ihren wulstiger werdenden Fingern verwuchsen, so wie Träume mit Kopfkissen verwachsen. Sie verbrachten die Nächte in abgedunkelten, kühlen Schlafzimmern auf eigentümlich riechenden Doppelbetten. Ihre Ehen wurden lebenslang geführt. Sie trugen den Namen des Mannes wie ein Brandzeichen und brachten die Familien und die Herkunft der Frauen unweigerlich in Vergessenheit.

Frau Schlick war die Schärfste. Sie war ganz allein für Tobi da. Sie war geschminkt. Sie hinterließ einen Duft. Sie hinterließ diese Spuren mit ihren Stöckelschuhen. Das Terrain, das sie so markierte, war irgendwie geächtet, niemand sagte das so, aber Frau Schlick, erzählten die Leute, habe ihrem „armen Sohn“ etwas „angetan“. Warum sie mit Tobis Vater nicht mehr die Verbindung „meine Eltern“ halten und statt dessen als „meine Mutter“ wie gefährliche Munition gehandelt werden wollte, interessierte niemanden. Uns dafür um so mehr. Wir verfolgten sie, weil wir wissen wollten, wie es dort ist, wo sie hingeht. Wir folgten ihr immer weiter.

War sie in einem Hof oder einer Haustür verschwunden, hockten wir uns in sicherer Entfernung in ein Versteck. Und warteten, dass endlich alles detonierte. Nadja, Klinger, 37 Jahre

Ich würde jetzt mal sagen, dass keine Generation so wenig Generation ist wie meine. Jedenfalls kenne ich keine andere, in der das Ich so groß und das Wir so klein ist. Wenn für die 18-Jährigen heute das Handy das typische Gerät ist, dann war es für uns der Walkman. Man konnte morgens in der U-Bahn ganze Bänke voll mit jungen Menschen sehen, die Augen geschlossen, auf den Ohren Kopfhörer, die Köpfe spastisch zuckend. Zwischendrin ein paar hilflose Erwachsene, die versuchten, von den hin und her schießenden Rhythmen nicht irre zu werden. Die BVG hängte Schilder auf: „Leise wird es niemand stören.“ Ich habe Leute gesehen, die auf Partys ihren Walkman nicht abnahmen. Das hatte was mit Coolsein zu tun. Aber auch mit Dichtmachen, mit der Unfähigkeit sich zu arrangieren, selbst wenn es um Musik ging, von der es heißt, sie sei verbindend. Bei uns trennte sie. Wir waren auch die ersten Opfer der Retrowellen, wahrscheinlich überhaupt die erste postmoderne Generation, sektiererisch in Stil- und ideologischen Fragen.

Das lag auch daran, dass wir keine wirklichen Gegner hatten. Gegner einen. Für uns hatten im Prinzip alle Verständnis. Die Eltern, die Lehrer, der Staat, sogar die Kirche war nicht ernsthaft etwas, wovon man sich abstoßen musste. Das Einzige, was uns im Weg stand, waren wir selbst. Weil wir uns dauernd mit uns beschäftigten. Man sieht das an der Literatur der „Jungautoren“ um die dreißig: immer ich, ich, ich. Wir ist ein anderer. Vielleicht werden wir deshalb so spät erwachsen wie keine Generation zuvor. Bei manchen von uns dauert die Adoleszenz in der Lebensmitte immer noch an. Von der Pubertät in die Midlifecrisis, unter Berücksichtigung der von uns erfundenen Quarterlifecrisis. Immer noch sind wir damit beschäftigt, unser Ich zu bilden – die erste fiktive Generation, auch so könnte man uns nennen – die Generation, die sich selbst erschaffen will. Aber dafür braucht man Grenzen, oder nennen wir es Gegner. In der letzten Zeit haben sich wieder welche gezeigt: Arbeitslosigkeit, Krieg, Globalisierung. Sie haben zwar kein Gesicht, was die Sache schwerer macht, aber vielleicht nehmen wir jetzt mal den Walkman ab und werden endlich groß. Christine Meffert, 33 Jahre

1990 war ein Jahr, in dem viel passierte in Deutschland, freie Wahlen in der DDR, dann Wiedervereinigung, und Helmut Kohl wurde Kanzler der Einheit.

Mein 1990 begann weit weg davon, in Plymouth, England, und aus einem traurigen Grund. Einige Monate vorher hatte ich mich bei einem Fußballspiel so schwer verletzt, dass ich mich von meinem Traum verabschieden musste, Profi zu werden. Meine Eltern begriffen, dass sie etwas tun mussten. Eines Tages sagte mein Vater: Du wolltest doch mal länger ins Ausland, oder? Einige Wochen darauf kam ich in Plymouth an, High-School for Boys, stockkonservativ, alte Gemäuer, Schulinform – aber ich war abgelenkt, kein Gedanke mehr an Fußball.

Es muss in der ersten oder zweiten Woche gewesen sein, als mich die Politik aus Deutschland einholte. Wir hatten bei einem alten Herrn Geschichtsunterricht, der schlohweiße Haare hatte und lange Koteletten und an einen Käpt’n erinnerte. Es fehlte nur die Augenklappe. „Gentlemen“, sagte er, „heute wollen wir ein aktuelles Thema besprechen, wir haben einen Experten unter uns: Gründen die Deutschen ein Viertes Reich? Mister Amend, erklären Sie uns das bitte.“ Vielleicht waren seine Worte höflicher, britischer, aber so kamen sie nicht bei mir an: Er betrachtete mich als Nachfahre der Nazis, und ich sollte erklären, warum seine englische Schulklasse keine Angst vor mir haben sollte.

Es war das erste Mal, dass ich für längere Zeit alleine im Ausland war, ohne den Schutz der Familie. Es war das erste Mal, dass ich mich nicht als ein junger Mensch, sondern als Deutscher erklären musste. Ich hatte keine Ahnung, wie das gehen sollte. Ich spürte, was es bedeutet, Verantwortung zu übernehmen für etwas, was vor der eigenen Zeit, aber im eigenen Land und von den eigenen Vorfahren verbrochen wurde.

Ich stand auf und redete, und wahrscheinlich kann man den Vortrag so zusammenfassen: „Habt keine Angst. Ich bin kein Nazi. Wir Deutschen wollen euch nicht bedrohen.“ Es klang sicher sehr unbeholfen. Dann durfte ich mich wieder setzen.

Der Geschichtslehrer bedankte sich und fuhr mit dem Unterricht fort. Nach dem Pausengong schüttelte er meine Hand. Das Thema kam im Unterricht nie wieder vor. Erst später fiel mir ein, dass er vielleicht in seiner Jugend gegen meinen deutschen Großvater gekämpft hatte. Dass er Angst hatte vor einem bedrohlich starken Deutschland.

Die Zeit danach entwickelte sich erfreulich. Im britischen Fernsehen wurde ausführlich berichtet über die deutschen Wahlen, die Kommentatoren lobten, wie zurückhaltend sich der Bundeskanzler dem Ausland gegenüber gab. Es war ein gutes Jahr für Deutschland, und je länger es dauerte, desto besser wurde es, als Deutscher im Ausland zu sein. Ich saß abends mit meiner Gast-Familie vor dem Fernseher und freute mich für mein Land. Mein Land? Man merkt ja erst im Ausland, wie deutsch man ist, der Zufall wollte es, dass dies bei mir in einem Jahr geschah, als die Deutschen positive Schlagzeilen machten. Wäre ich zehn Jahre früher in dem Alter gewesen, vielleicht hätte ich heute ein negatives Verhältnis zu Deutschland. Aber so war es einfach nicht.

Monate später begegnete ich dem Geschichtslehrer auf dem Pausenhof. Er gratulierte mir: „You Germans must be happy now“, ihr Deutschen müsst glücklich sein. Ich war mittlerweile 16 Jahre alt und sagte: „Ja.“ Christoph Amend, 29 Jahre

Hellmuth Karasek[69 Jahre]

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