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Kultur: „Ich war weniger wert als ein Tier“

Ingeborg Jacobs über die Lebensgeschichte eines ostpreußischen Wolfskindes

Wolfskind? Das Wort wird den wenigsten etwas sagen. Zu Wolfskindern wurden nach 1945 tausende elternlos gewordener, allein übrig gebliebener Kinder im sowjetisch besetzten, nördlichen Ostpreußen. Nachdem ab September 1945 die neue Grenze zu Polen mit Stacheldrahtzäunen und Todesstreifen hermetisch abgeriegelt worden war, hatten deutsche Jungen und Mädchen nur dann eine Überlebenschance, wenn es ihnen gelang, irgendwie nach Litauen zu entkommen, um dort Essbares zu erbetteln, auch einen zeitweiligen Unterschlupf, zumindest für eine Nacht. Zu ihnen gehörte die siebenjährige Liesabeth Otto, deren Schicksal in einem berühmt gewordenen Dokumentarfilm aufgezeichnet wurde. Nun folgt ein bewegendes Buch über das erschütternde Schicksal des ehemaligen Wolfskindes, das die ZDF-Journalistin Ingeborg Jacobs einfühlsam in Ich-Form nacherzählt.

Nach dem Tode der Mutter auf der Flucht in Danzig liefen die drei Geschwister Christel, Manfred und Liesabeth zurück in ihre Heimatstadt Wehlau. Die beiden Älteren, dreizehn und elf Jahre alt, fanden Arbeit in der Umgebung auf einem früheren Gut, das zur Militärkolchose geworden war, erhielten dafür kümmerliche Essensrationen. Liesabeth, noch zu klein zum Arbeiten, ging leer aus. Eine deutsche Nachbarin überredete das Kind, mit ihr nach Litauen zu reisen und dort den Wintermantel der Schwester, den man ja jetzt im Sommer nicht brauchte, in Lebensmittel umzutauschen. „Obwohl ich noch klein war, hatte auch ich schon davon gehört, dass man in Litauen um Essen betteln konnte.“ Schon vor dem Bahnhof verschwand allerdings die Nachbarin auf Nimmerwiedersehen. „Danach war ich auf mich gestellt. Ich wollte zwar nur Lebensmittel betteln und dann zurück zu meinen Geschwistern … doch zurück nach Nord-Ostpreußen, wo Christel und Manfred waren, kam ich nicht mehr.“

In einem leeren Güterwagen nach Litauen entkommen, dort aber auf freier Strecke aus dem Zug geworfen, wird das Kind von einer Bauernfamilie eine Zeitlang vor dem Hungertod gerettet, doch dann aus Angst vor der sowjetischen Geheimpolizei wieder weggeschickt. Denn es war Litauern verboten, vokietukai, kleine Deutsche, zu verstecken. Wurden sie ertappt, konnten sie deswegen nach Sibirien verbannt werden.

Acht Jahre lang, bis 1953, treibt sich Liesabeth bettelnd auf dem Lande herum, hält sich als kindlicher Tagelöhner mühsam am Leben. Gefahren lauern überall. So wird sie eines Tages von mehreren Jungen als kleiner Hitler mit einem Strick um den Hals aufgehängt, erst im letzten Moment durch einen Fremden gerettet. Ein andermal wird sie vergewaltigt, in einen Sack gesteckt und in die Memel geworfen, aber von zwei Fischern aus dem Wasser gezogen. „Meine Schmerzen gingen vorbei, doch mein Leben lang konnte ich das nicht vergessen.“ Doch sie ist noch mehrfach später vergewaltigt worden. Für Tiere gab es überall gute, warme Ställe. „Nur für mich war kein Platz. Ich war weniger wert als ein Tier.“

Sie hat die Krätze, hat Läuse, ist schmutzig, stinkt. Nur ab und an geben ihr mitleidige Menschen etwas zum Anziehen. Sie wird straffällig, wird weit über Land in ein Kindergefängnis verfrachtet. Immerhin: „zum ersten Mal wieder ein geregeltes Leben“.

Das wird sich noch mehrfach wiederholen. Viele Jahre verbringt sie in gottverlassenen sowjetischen Gegenden hinter Gittern, hat fortan den doppelten Makel, eine Straflagerentlassene und eine Deutsche zu sein. Alle Deutschen, auch Kinder wie sie, waren und blieben Faschisten. Noch 1999 – Liesabeth war in Sowjetisch-Ostpreußen sesshaft geworden – wird sie von ihren Nachbarn als Faschistin beschimpft: Es sei schade, dass man sie nach dem Krieg nicht umgebracht habe.

Sie bleibt also in Russland nach Jahrzehnten immer noch eine Fremde. Aber auch in Deutschland kann sie nicht heimisch werden. „Anfang 1976 erzählte ich einer Nachbarin, dass ich Deutsche bin … Sonst sprach ich nicht darüber, weil ich die Erfahrung gemacht hatte, dass Deutsche selbst mehr als dreißig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges noch unerwünscht waren.“ Diese Frau riet ihr, sich an den Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes zu wenden. „Meine Muttersprache hatte ich längst vergessen … Deshalb schrieb ich auf Russisch alles auf, woran ich mich erinnern konnte, meinen Namen, die Namen der Geschwister, den des Vaters.“ Zu ihrer großen Überraschung – denn ein früherer Kontaktversuch war erfolglos geblieben – kam rasch eine telegrafische Antwort. Die Schwester war zwar 1948 verhungert, aber der Bruder im selben Jahr nach Deutschland gekommen, und auch der Vater aus dem Krieg heimgekehrt.

Die ersehnte Familienzusammenführung missglückt allerdings. Liesabeth findet sich in der Bundesrepublik nicht zurecht. Inzwischen hat sie zwar, wenn auch erst 2001, die deutsche Staatsangehörigkeit zurückbekommen. Sie pendelt zwischen Hannover und Ijewskoje, das früher Widitten hieß, ruhelos hin und her. Ihre kranke Tochter Elena, von ihrem russischen Ehemann geschieden wie sie, hat die Hoffnung aufgegeben, mit ihren beiden Kindern nach Deutschland auszureisen.

Für Liesabeth und ihre Familie hat die Katastrophe des verlorenen Krieges nie ein Ende gefunden.

Ingeborg Jacobs: Wolfskind. Die unglaubliche Lebensgeschichte des ostpreußischen Mädchens Liesabeth Otto. Propyläen, Berlin 2010. 318 Seiten, 19,95 Euro.

Arnulf Baring

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