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Kultur: Ich wasche meine Hände in Unwissen

Der amerikanische Regisseur Gus van Sant meditiert mit seinem in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichneten Film „Elephant“ über jugendliche Amokläufer an Schulen

John ist schon wieder zu spät zur Schule gekommen. Ein Problemschüler. Der Direktor fängt ihn auf dem Flur ab und zitiert ihn ins Büro. Dort sieht er John lange an, mit einem Blick, in dem sich Neugier, Besorgnis und eine Spur Resignation mischen. Dann lässt er ihn gehen, ohne ein weiteres Wort.

Im Bild des freundlich taxierenden Direktors verbirgt sich ein ganzer Diskurs – aus Orientierungslosigkeit, fehlender Fürsorge, Sprachlosigkeit. Während der Direktor dem Sorgenkind in die Augen sieht, scheinen ihm lauter Brocken einer Gewissensrede durchs Hirn zu schießen. Aber er schweigt und sieht nur weiter hin.

Vor sechs Jahren haben zwei Schüler der Columbine High School im US-Bundesstaat Colorado unter Mitschülern ein Massaker mit 13 Todesopfern angerichtet. Vor zwei Jahren hat Robert Steinhäuser in einem Erfurter Gymnasium 16 Menschen erschossen. Wie konnte das geschehen? Bevor man mit dem Erklären beginnt, zweifelt man an der Erklärbarkeit einer solchen Tat. Böse Computerspiele, lieblose Eltern, unnachsichtige Lehrer – kein Motiv scheint in der Lage, das Unbegreifliche begreiflich zu machen.

Gus van Sant hat sich einen Film zum Thema zugetraut. „Elephant“ schildert den letzten, ganz normalen Schultag vor einem Massaker, und er endet mit der Tat selbst. Van Sant inszeniert zufällige Begegnungen, verstreute Eindrücke und schiebt nach und nach die Täter in den Vordergrund. Der Schuldirektor, der wohl vieles zu sagen wüsste, es aber vorerst beim forschenden Blick belässt, ist ein kleines Selbstporträt. So sieht sich van Sant: Er blickt kritisch auf den Alltag, hält sich mit dem Urteil aber zurück und lässt den Jugendlichen ihre Freiheit.

Diese Freiheit ist hier eine inszenierte, eine künstlich geschaffene – und sie wird sogar leicht experimentell umrahmt. „Elephant“ verzichtet auf Protagonisten und auf eine dramatisch verdichtete Handlung. Immerhin gibt es Figuren, die im Lauf der Zeit mehrfach auftauchen. Der empfindsame Problemschüler John, der sich Sorgen macht um seinen betrunkenen Vater; der sportliche Nate, der nicht nur von seiner eigenen Freundin angehimmelt wird; das hässliche Entlein Michelle, die Freundinnen Jordan, Brittany und Nicole, die die Kantinenkost in einer gepflegten Bulimie-Attacke gleich wieder auskotzen; schließlich Alex und Eric, die ihre Schule mit Tarnkleidung und schwerem Geschütz entern, um Leben zu nehmen.

Aber van Sant hat keine psychologisch ausgepolsterten Figuren erfunden, von denen er nun etwas Bestimmtes erzählen will. Die Hollywood-Tastatur, auf der er Erweckungsstorys wie „Good Will Hunting“ und „Finding Forrester“ heruntergehämmert hat, bleibt unangerührt. Und es erklingt auch keiner der bluesigen Outlaw-Akkorde aus „Drugstore Cowboy“ oder „My Own Private Idaho“. Diesmal heben sich bloß Handlungswölkchen von einem Soundteppich aus Alltagsgeräuschen ab. Darüber hat van Sant echte Schüler eine Art Leinwand-Version ihrer selbst entwerfen lassen. Diese bloß skizzierten Gestalten begleiten er und sein Kameramann Harry Savides mit einer Mischung aus Neugier und Zurückhaltung über die Schulflure, auf den Sportplatz, durch die Kantine.

Dabei zeigt die zentrale, sich wiederholende Einstellung einzelne Schüler, die einen Korridor durchmessen, um die Ecke biegen, hier „Hi“ sagen, dorthin einen Blick werfen und immer weitergehen, die Kamera geduldig auf den Fersen. Doch beobachtet wird hier im Grunde niemand. Stattdessen wird die Beobachtung selbst inszeniert. Auch seine Aufmerksamkeit widmet der Film weniger den Figuren als seiner Aufmerksamkeit selbst. Und er möchte das als noble, bescheidene Geste verstanden wissen. „Elephant“ will keine falschen Antworten geben, sondern zu den richtigen Fragen vorstoßen. Es geht nicht um das Thema, sondern um den Blick darauf: Wie muss man die Schüler und ihre Welt ansehen, um etwas vom unfassbaren Grauen zu verstehen, das aus ihrer Mitte erwächst?

Der Titel, im Film selbst nicht erläutert, weist in die gleiche Richtung. Es gibt eine alte indische Geschichte über mehrere Blinde, die das Wesen eines Elefanten erfassen sollten. Entsprechend dem Körperteil, das jeder Einzelne ertastet, erstatten sie völlig unterschiedlich Bericht – und verfehlen damit das eigentlich Elefantische. Der Brite Alan Clarke hat 1989 einen Essayfilm über IRA-Verbrechen gemacht und ihn „Elephant“ genannt. Gus van Sant wollte dem Werk Reverenz erweisen und glaubte zunächst, der Titel spiele auf die indische Legende an. Dabei hatte Alan Clarke nur eine bissige Redensart im Sinn: Manche Probleme seien so leicht zu übersehen wie ein Elefant im Wohnzimmer. Beide Titel-Geschichten haben immerhin diese eine Gemeinsamkeit: Sie sprechen nicht vom Problem, sondern vom Blick darauf.

Gus van Sants „Elephant“ hat in Cannes die Goldene Palme gewonnen. Auf Festivals kommen Werke mit eingebautem Selbstbezug traditionell gut weg. In diesem Fall wurde die Bescheidenheit belohnt, das Pirouettendrehen im Vorzimmer des Problems. „Wir wollten nichts erklären“, sagt van Sant, der das Geschehen zudem für „womöglich unerklärlich“ hält. Ehrenhafte Bedenken – wenn man aber die Kamera anschaltet, Schauspieler einsetzt, ein Massaker herbeiinszeniert, wird die Feinheit des „Ich wasche meine Hände in Unwissen“ zur Feigheit. Dann zeugt die Zurückhaltung nicht mehr von Scham, sondern von Schamlosigkeit.

In Wirklichkeit hat sich Gus van Sant gar keinen Film zugetraut, sondern bloß eine Meditation über die Möglichkeit eines Films zum Thema. „Elephant“ ist im Einzelnen brillant inszeniert, es herrscht bezauberndes Licht, die Sequenzen sind, mit Zeitschleifen versetzt, elegant montiert. Aber letztlich schillern nur Luftblasen vorüber. Aus Scheu, etwas Falsches zu sagen, sagt van Sant lieber gar nichts – und verkauft das als Meta-Haltung. Soll klüger aussehen. Ist aber dümmer.

Ab Donnerstag in Berlin im Babylon Kreuzberg (OmU), FT Friedrichshain, fsk (OmU), Hackesche Höfe, Kant und Kulturbrauerei.

Merten Worthmann

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