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Kultur: Ihr habt die Macht und wir die Liebe

Ethno-Schlager, Kanzler-Spott und Betroffenheitsposen: Heute wird der deutsche Grand-Prix-Beitrag gekürt

Es ist wie beim IngeborgBachmann-Wettbewerb in Klagenfurt: Alle Jahre wieder treffen sich dort ein gutes Dutzend jüngerer deutschsprachiger Autoren, die als Nachwuchshoffnungen angepriesen werden und manchmal Staunen machen, wie sie zu ihren Vorschusslorbeeren kamen. Beim Vorentscheid zum Grand Prix Eurovision, der heute Abend in der Kieler Ostseehalle stattfindet, geht es jedenfalls so zu: 15 zumeist gänzlich unbekannte Sangeskünstler tun so, als wäre ihr Leben mit diesem Etappensieg gekrönt, und tragen Lieder vor, deren Schlichtheit immer wieder aufs Neue überrascht.

Anders als in Klagenfurt ist es dem Publikum gestattet, sich die Nummern drei Wochen zu Gemüte zu führen – was die Möglichkeit gibt, sich auf die Schockerlebnisse vor dem Bildschirm in Ruhe einzustimmen. 15 Lieder, wie gesagt, und wer tapfer genug war, sie sich mehrfach anzuhören, möchte verzweifeln: Wer um Himmels willen soll die Kieler Grand- Prix-Palme davontragen? Welches Gesangsstück soll die ohnehin gebeutelten deutschen Farben Ende Mai in Lettland vertreten?

Unter den Blinden ist der Einäugige König, pflegt der Volksmund zu sagen, und gerne würde man diese elementare Wahrheit auch hier anwenden. Leider verbietet dies die politische Korrektheit, da Deutschland im vergangenen Jahr die blinde Bremerin Corinna May ins Rennen schickte (und es damit fast zum Grand-Prix- Schlusslicht gebracht hätte). Formulieren wir also eine feinfühligere Analogie: Unter den FDP-Spitzenpolitikern wurde Guido Westerwelle Kanzlerkandidat, folglich werden wir heute... ja, wen eigentlich? ... als Sieger erleben.

Liebe ist Leben...

Der Reihe nach: Seitdem der Norddeutsche Rundfunk mit seinem einfallsreichen Unterhaltungschef Jürgen Meier- Beer 1996 den Vorentscheid in seine Hände nahm, floriert das Geschäft. Der Song Contest streifte sein altjüngferliches Image ab und wurde auch für die „Kids“ zum spannungsgeladenen Event – eine Rechnung, die in diesem Jahr durch den Trubel um „Deutschland sucht den Superstar“ im Vorfeld nicht recht aufging. Kontroverse Beiträge von Guildo Horn oder Stefan Raab spalteten – dank gütiger Mithilfe der „Bild“-Zeitung – die Nation und verhalfen dem Grand Prix zu famosen Quoten. Konsequent betrieb der NDR das Geschäft des globalisierten Einheitsgesangs und drängte den altgedienten Schlager, zum Leidwesen von Dieter Thomas Heck, ins Abseits. Michelle, Bernhard Brink, Nino de Angelo – solches Schlagerurgestein findet sich 2003 endgültig auf der Strafbank.

Fassen wir das diesjährige Angebot zusammen: Zusammenstellungen mäßig talentierter Zeitgenossen, die sich possierliche Künstlernamen wie Vibe, Freistil oder Elija geben, werden wir zum Glück schon morgen früh vergessen haben. Die unter anderem aus Gemeinden wie Salzhemmendorf und Bielefeld stammende Jungmädchencombo „Lovecrush“, die wie ein stimmloses Remake des unvergessenen Botho-Lucas-Chors einherkommt, und die Formation „Tagträumer“ (mit – Gott hab’ ihn selig – Rudi Schurickes Enkel) werden uns mit ihren Gruselnummern „Love is Life“ und „Living in a Perfect World“ vermutlich die schrecklichsten sechs Minuten des Abends bescheren. Niemand schaut ungestraft fern.

Ein bisschen Frieden muss sein

Thematisch gesehen ist das Grand-Prix-Repertoire vor allem von rührigem Pazifismus geprägt. Das steht in guter deutscher Tradition („Ein bisschen Frieden“) und wirkt, selbst wenn man sich als Angehöriger des „Alten Europas“ versteht, meist peinlich. Sätze wie „Gewalt erzeugt Gewalt, das wissen wir doch schon lange hier in Deutschland“, „Hass macht nur Hass“ oder „Heut’ denke ich nicht an Zwietracht“ wollen wir an einen lustigen Liederabend nicht hören, zumal die triefende Scheinheiligkeit auch für leidenschaftliche Friedensfreunde so geballt nicht zu ertragen ist.

Die „Zwietracht“-Sentenz stammt aus dem Mund des „Jungen mit der Gitarre“, den die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ als ihren Kandidaten auserkor, weil er sich – so Redakteur Marguier – auf „intelligente muttersprachliche Lieder“ verstehe. Uns sagte dieser Barde, offen gesprochen, bislang nichts; sein schon unter einem tapsigen Titel leidender Wettbewerbsbeitrag „Die Seite, wo die Sonne scheint“ hat mit Intelligenz so viel zu tun wie Bayer Leverkusen mit Champions-League-Triumphen. Der mit dröger Klampfenerotik vorgetragene Appell an die Wärme spendende Sonne lässt keine Gefühle aufkommen; die Zeile „Wir hab’n die Liebe, Ihr habt die Macht“ fordert den klassischen Kommentar „Und das ist gut so“ geradezu heraus.

Friedenstaumel allein reicht nicht, und Plattenproduzenten sollten ihren Nachwuchsternschnuppen sagen, dass man als Mann nicht unbedingt wie Xavier Naidoo singen muss, um Erfolg zu haben. Beatbetrieb („Am Ende aller Zeit: Sag, was bleibt“) und Sascha Pierro, der in jeder Soap den dümmlichen Italo-Beau geben könnte, knödeln und quetschen auf Naidoos Gesangsspuren und wollen uns mit ihren Betroffenheitsposen einfach nicht gefallen.

Wenn Stimmbänder reißen

Was bleibt? Einer muss ja gewinnen, und so sei mutig eine Fünferspitzengruppe vorhergesagt. Zu ihr zählt womöglich die Husumer Opernsängerin Isgaard, deren vibrierendes Lied „Golden Key“ zwar durch und durch Grand- Prix-untauglich ist, aber gesangliche Qualitäten aufweist, die in diesem Feld des Elends auf Sympathie stoßen könnten. Oder Lou, das badische Naturtalent, das vom immer noch auf der Rennbahn trabenden Ralph Siegel ausgewählt wurde. Lous „Let’s get happy“ ist flott und fröhlich, was bei so viel Hass und Gewalt heiter stimmt? Ein bisschen mehr Originalität, und das kampfgestählte Duo Siegel/Meinunger hätte sich große Chancen ausrechnen dürfen. Oder schafft es vielleicht Charlemaine, die an Tracy Chapman erinnert und mit „Life“ zumindest ein akzeptabler Beitrag für den Wettbewerb in Riga wäre?

Nein, wenn nicht alle Stimmbänder reißen, wird es in Kiel zu einem Wettstreit unterschiedlicher Kosmen kommen – zwischen Senait, der von der „taz“ vorgeschlagenen Frau aus Eritrea, und dem landesweit bekannten Elmar Brandt, der als „Die Gerd Show“ das von Nina Ruge inspirierte „Alles wird gut“ zu Gehör bringen wird. Hier prallen Anschauungen aufeinander: Senaits „Herz aus Eis“ ist ein schmerzensreiches Lied, das einfallsarme Kommentatoren gemeinhin mit dem Etikett „Ballade“ versehen (was würde eigentlich Theodor Fontane dazu sagen?). Gesanglich nicht uninspiriert, textlich bieder, aber nicht unangenehm – wird das reichen, um die internationale Kuriosität einer „Gerd Show“ hinter sich zu lassen? Da müht sich der Bundeskanzler seit Monaten darum, als Friedensfürst in die Geschichtsbücher einzugehen, und dann sollen die 25 anderen europäischen Länder im sympathischen Riga mit einer Schröder-Parodie erschreckt werden? Mit lästerlichen Versen, die ein hohes Staatsamt und seinen Repräsentanten durch den Kakao ziehen?

Ja, vermutlich wird es dazu kommen. Elmar Brandt in Riga und wenig später als Gast in amerikanischen Late-Night-Shows, um das demolierte Ansehen des Kanzlers im eigenen Land zu präsentieren. Doch würde „Alles wird gut“ Gerhard Schröder wirklich schaden? Wurde nicht auch Helmut Kohl zum ewigen Kanzler, als man ihn als „Birne“ zu verspotten begann? Alle SPD-Sympathisanten („taz“-Leser ausgenommen) sollten beim TED-und SMS-Voting „Die Gerd Show“ wählen – ob das reichen wird?

Rainer Moritz

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