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Kultur: Ihr seid gemeint. Ihr da. Niemand sonst

Ingo Metzmacher, Jossi Wieler und Sergio Morabito stemmen in Amsterdam eine Mozart/Da-Ponte-Trilogie

Nach elf Stunden Oper, nach 84 Nummern, gefühlten 184 Arien und jeder Menge kruder dialektischer Regierätsel schlagen die Bilder Purzelbäume: Sahen sich Zerlina und Fiordiligi in ihrer Strohblondheit nicht verflixt ähnlich? Hätte das froschgrüne Cabrio statt im „Figaro“ nicht auch in „Così fan tutte“ eine tragende Rolle spielen können, inmitten der Petticoat raschelnden Prüderie der fünfziger Jahre nämlich? Und an wie vielen Stellen kam die Musik nun eigentlich vom Plattenspieler? Memory im Mozartjahr. Ein Spiel, bei dem nur der gewinnt, der auch den Verlust schätzt. Das, was partout nicht zueinander passt, ambivalent bleibt, Fliehkräfte entfaltet.

Zum Vergleich: Wagners „Ring“ – nichts anderes ist wohl die Referenz! – baut ganz auf den wirklichkeitsüberwindenden, subversiven Sog. Man taucht ein ins Paralleluniversum der Götter, Menschen und Zwerge, blickt diesen bei der dramatischen Verrichtung gleichsam über die Schulter. Und stürzt, ehe man sich’s versieht, kopfüber ins schwarze Loch des „unsichtbaren Theaters“, der kapitalen Illusion. Mozart hingegen arbeitet zentrifugal: Seine Kunst wirft das Publikum an die Ränder der Welt, auf dass es aus der Distanz heraus einen Lidschlag lang das Ganze sieht, bevor es, Lemmingen gleich, zur Mitte zurückkrabbelt. Mozarts Figuren – und diese unerhört anstrengende Sisyphos-Erfahrung kann man in Amsterdam gut machen – zeigen permanent mit dem Finger auf uns. Ihr seid gemeint. Ihr da. Niemand sonst.

Es geht nicht ums Theater, sagt beispielsweise Don Giovanni, der alte Wüstling, es geht ums Leben, ums unbedingte Selberleben. Und fährt in Jossi Wielers und Sergio Morabitos Inszenierung am Ende nicht etwa zur Hölle, sondern türmt durch den Saal. Die Hölle wäre, unterm Joch des eigenen Mythos hinter der vierten Wand weiter vegetieren zu müssen, Champagnerarien absingend. Die Hölle: Alle Lust und alle Liebe an die Kunst zu delegieren, ja zu verraten. Deshalb darf Fiordiligi, die ach so Tugendhafte, sich in „Così“ auch recht handfest mit dem Falschen, mit Ferrando, vergnügen; und deshalb kommt das „Figaro“-Finale, verwunderlich und ergreifend genug, ganz ohne den üblichen albernen Mummenschanz aus. Die Frage, wer sich hier für wen in wen verkleidet, ist obsolet (und wird kurzerhand als Mauerschau abgehandelt, mit den Wackelbildern einer Überwachungskamera). Unten aber, auf weiter leerer, leergeräumter Bühne, steht reglos der Mensch. Und singt. Fast ist einem die Botschaft ein bisschen peinlich: Sei du selbst, die Musik enttarnt dich ohnehin? Übernimm Verantwortung, bekenne dich?

Memory hin, Gesamtkunstwerkliches her: So gab’s das noch nie. Die drei Da- Ponte-Opern an drei Abenden hintereinander, mit „Don Giovanni“ als Filetstück, als „roter Billardkugel“, wie Ingo Metzmacher, der Dirigent, es im Vorfeld sportlich formulierte. Und ganz gleich, ob man jenem Dreierpack nun tatsächlich einen vitalen Mehrwert, einen Überschuss an Tiefblick und Erkenntnis zubilligen will oder doch eher die athletische Kraftprobe darin wittert, das Circensisch-Spektakelnde: Der Amsterdamer Oper dürfte einer der Höhepunkte des Mozartjahres sicher sein.

Zeiten erhöhter Krisenanfälligkeit und Verunsicherung provozieren offenbar gerne Editionen, Schuber und repräsentative Pakete. Vor Nachahmung muss trotzdem gewarnt werden, etwa im Falle Giuseppe Verdi/Arrigo Boito oder Richard Strauss/Hugo von Hofmannsthal: Die Addition sämtlicher Teile garantiert nicht zwangsläufig das Ganze.

Die öffentliche Aufmerksamkeit also macht den ersten Amsterdamer Unterschied. Der zweite dürfte in der Macherperspektive zu suchen sein. Einen derart klaustrophobisch-stickigen, albtraumgesättigten „Don Giovanni“ jedenfalls hätten sich Wieler/Morabito ohne die flankierenden Farbtupfer der „Così“ (die Da Pontes Untertitel von der „Scuola degli amanti“ wörtlich nimmt und unter Teenies in einem Schullandheim am Meer spielt) und des „Figaro“ (angesiedelt im Autohaus „Almaviva“) gewiss nie gestattet. Und also stehen die Stücke doch füreinander ein?

Die Szene (Bühne: Barbara Ehnes) spielt in der Bettenabteilung eines Möbelhauses der sechziger Jahre. Wie lebendig Begrabene irrlichtern die Figuren hier durch die Nacht, ein archetypisches bürgerliches Bestiarium: Die hysterische Anna, von ihrem Vater missbraucht und an Ottavio weitergereicht; die weniger rachsüchtige als schwer lüsterne Elvira; Zerlina (Cora Burggraaf), die es sich noch vor ihrer Hochzeit mit Masetto von Giovanni besorgen lässt und erst laut schreit, als ihr das Blut zwischen den Beinen herunterläuft; Leporello (José Fardilha), eine verschlagene Spießertype à la Axel Prahl, ein Fummler und Spanner, der sich heimlich an seiner Super-8Sammlung aufgeilt. Sie alle haben letztlich nur sich selbst im Sinn, begegnen in der Bühnenmusik des ersten Finales – ein starkes, gruseliges Bild! – ihren zum Totentanz aufspielenden Wiedergängern und atmen erleichtert auf, als der Komtur nach einer fulminanten Geisterbahnfahrt des Raums vom Erdboden verschluckt wird und der Verführer aller Verführer, siehe oben, seinerseits die Flucht ergreift.

Kennte man allerdings das Stück nicht, man würde nichts begreifen von seiner sozialen Wirklichkeit, vom „Ende des erotischen Zeitalters“, das Mozart und Da Ponte hier aufs doppeldeutigste einläuten. Das wiederum muss auch Ingo Metzmacher und das Niederländische Kammerorchester schwer mitgenommen, ja verwirrt haben: Der Abend fand aus dem Klappern und Scheppern buchstäblich nicht mehr heraus, wofür der Dirigent wütende Buhs einsteckte. Dass er es besser kann, hatte Metzmacher Tags zuvor bewiesen mit einer zwar nicht sonderlich tief schürfenden, aber eleganten, sehr weichen Klangtextur für „Così fan tutte“. Interessant (und hoffentlich beabsichtigt!): Die vielen kleinen Aussetzer in der Musik, hier ein verstörtes Innehalten, dort eine ins Unendliche flutende Fermate – als hebelten sich das Innere und das Äußere, die Sehnsüchte und die Tatsachen systematisch gegenseitig aus.

Die Revolution jedenfalls ist weiblich (wie die Frauen an allen drei Abenden eindeutig die Initiative übernehmen). Während die „Così“-Jungs sich mit Elvis-Tolle und Schnurrbart auf die Männlichkeitsklischees ihrer großen Brüder stürzen, geben sich die Mädchen dem Widerstreit der erwachenden Gefühle hin: Dorabella ohne größere Widerstände (Maite Beaumont), Fiordiligi mit mächtigem Hader: Wie Sally Matthews in „Come scoglio“ entdeckt, dass sie die Seria-Klischees ihrer Arie nur heraufbeschwört, um sich und die Welt endgültig davon loszusagen – das hat echten backfischhaften Furor und reinigt die Partie von jedem altjüngferlich-maliziösen Als-ob. Matthews ist (neben Danielle de Nieses knackig präsenter Despina) die Entdeckung dieses Mozartzyklus: Ein großer, reicher, unerhört musikalischer Sopran an der Schwelle zum Lyrisch-Dramatischen, mit brodelnden Orgeltiefen und sirenischen Höhen. Schade nur, dass die Naturhörner ihr das „Per-pietà“Rondo im zweiten Akt so heillos verkieksten.

Nach These und Antithese in Liebesdingen dann also die Synthese, das Happy End, der „Figaro“. Der Graf als Chef eines Autohauses in den Siebzigern, wie gesagt, mit Figaro (kernig: Luca Pisaroni) als Verkäufer und Cherubino als erstem Mechaniker. Das mag sich platter lesen, als es im dramatischen Laufwerk des Stücks tatsächlich funktioniert, oft auf witzige, ja überraschende Weise. Ingo Metzmacher inspiriert es zu einem späten Höhenflug. So sehr es ihm oft an Souveränität und einer rein handwerklichen, schlagtechnischen Durchdringung der Partituren gemangelt hat, so fraglos findet er in diesem vierten Akt plötzlich zu seinem Mozartton: farbig, griffig, frei strömend. Und während man noch überlegt, ob es wohl wichtig ist, dass der Darsteller des Figaro einst Guglielmo war und Marzelline einst Elvira, schließt sich der hölzerne Hangar hinter den letzten hineinstolpernden Choristen. Die Arche Mozart auf großer, ungewisser Fahrt.

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