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Kultur: Ihr sollt tausend Insekten hören

„Hail to the Thief“, das jüngste Album aus Radioheads düsterem Popreich

Von Gregor Dotzauer

Das erste Kennenlernen eines Albums von Radiohead ist etwas, das nie ganz zu Ende geht. Denn auch beim zehnten Hören, wenn das verwirrende Pulsen und Flirren der Klangschichten allmählich nachlässt, ist man weit davon entfernt, über die Stücke zu verfügen. Hier eine allerliebst vor sich hintickende Beatbox, dort eine monströs aufragende Gitarrenwand, dazwischen eine Falsettkantilene: Man erkennt nach einer Weile vieles wieder, aber um über den jeweiligen Charakter der 14 auf „Hail to the Thief“ versammelten Songs orientiert zu sein, braucht es Tage. Man muss die unerschöpfliche Musik des britischen Quintetts erobern, und wenn man schließlich meint, es geschafft zu haben, hat sie womöglich von einem selbst Besitz ergriffen.

Es kann dann passieren, dass man nachts noch einmal aufwacht und wehrlos, wie man daliegt, auf dem besten Wege zu vergessen, wer man ist, geht alles von alleine los. Jonny Greenwood stöpselt seine Gitarre in den Verstärker, der sich mit einer irrlichternden Rückkopplung bedankt, und auf einmal ist man selbst jener Hallraum, durch den zusammen mit den Konturen der Songs Thom Yorkes Wehklagen, Nuscheln, Flüstern und Schreien und elektronische Geräusche geistern: ein Sammelsurium ferner Frequenzen und Störsender, die sich an jedem einzelnen Punkt des Radiohead-Universums aufs Neue bündeln.

Es ist nicht so, dass Radiohead-Stücke an sich so komplex wären, wie es am Dreiminuten-Song mit klassischem Refrain geschulte Popohren gern behaupten. Die Grundrhythmen sind vierviertelhaltiger, als es die darüber liegenden perkussiven Patterns suggerieren: Radiohead ist über weite Strecken tanzbar. Und das harmonische Rückgrat ist stabiler, als es einem die irgendwo mit einem unaufgelösten Akkord beginnenden und vielleicht mit einem Rauschen endenden Stücke weismachen – getreu Jean-Luc Godards Devise, dass ein Film einen Anfang, eine Mitte und einen Schluss haben müsse, nur nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.

Allerdings ist die schöne Logik der abendländischen Akkordfortschreitung mit ihrer physikalisch begründeten Stufenlehre immer wieder aufgehoben. Die Stücke treten, von mächtigen Bass-Ostinati beschwert, auf der Stelle oder arbeiten mit seltsamen Rückungen, die in anderen Zusammenhängen dilettantisch wirken würden. Ihre Fremdartigkeit rührt eher daher, dass sie in so fremden Farben schillern. Digitale Insekten umschwirren Thom Yorkes weit gezogene, pathetische Melodien, und in „Myxomatosis“, dem aggressivsten Stück des Albums, dessen Titel sich auf eine tödliche Hasenkrankheit bezieht, kriecht ein fetter Techno-Tatzelwurm aus dem Synthesizer.

Radioheads Musik ist, und dazu muss man die eher als assoziatives Material denn als präzise Lyrik dienenden Texte gar nicht genau lesen, in einem animistischen Universum angesiedelt. Die Wände atmen bedrohlich, und die Hölle sperrt den Schlund auf. Doch die Beseeltheit der Dinge, die diese Musik beschwört, hat nichts mehr mit dem Glauben der Naturvölker zu tun. Sie wittert das Seelenhafte, wo Mensch und Maschine zusammenwachsen, im Amalgam von Samples, Loops und akustischen Gitarren. Und wenn sich die Musiker, die am liebsten gar nicht öffentlich in Erscheinung treten würden, auf der Bühne die Hemden vom Leib reißen würden, müsste man glatt damit rechnen, ein Kabelgewirr zu sehen.

„Hail to the Thief“ – der Titel spielt an auf den zweifelhaften Wahlsieg von George W. Bush in Florida – ist der Nachfolger von zwei legendären Alben, mit denen sich die fünf aus Oxford nach ihrem Durchbruch mit „OK Computer“ als eine der erfindungsreichsten Bands der Jahrtausendwende etablierten. „Kid A“ und „Amnesiac“, zwei gleichzeitig im Studio entstandene (und im Jahresabstand veröffentlichte) Alben schufen einen eigenen Popdiskurs, ohne ihm selbst verhaftet zu sein. Es waren elektronische Wunderwerke, die ihr Ausgangsmaterial solange geschreddert hatten, bis Radiohead ihnen jede Ähnlichkeit mit dem einfacher strukturierten Gitarrenrock ihrer Herkunft ausgetrieben hatten. „Hail to the Thief“ nun geht gleich von irritirenden Songs aus und hat in Nigel Godrich einen Produzent gefunden, der die Artefakte von Radiohead zu einer Dichte entwickelt, der anders als bei den Epigonen nichts mehr von ornamentalem Sounddesign anhaftet. Und doch ist das Problem dieser bis in den letzten Winkel auskomponierten – oder vielmehr: ausproduzierten – Musik, dass ihre scheinbar zufällige, mal schwebende, mal krachige Offenheit sich schlecht mit ihrer improvisationsfeindlichen Geschlossenheit verträgt: Radiohead auf der Bühne sind ein Ereignis ohne Überraschungen.

Die Stärke von „Hail to the Thief“ liegt deshalb vor allem in der hermetischen Wucht von Stücken, die gar nicht erst mit Klängen flirten, die auf die Überschreitung in Richtung Jazz oder zeitgenössische Aleatorik zielen. Es sind sinistre Elektrosongs wie „The Gloaming“, die kompakte Verzweiflung von „Backdrifts“, die Gitarrenhymne „There There“ oder das böse „Punchup at a Wedding“. Mit ihren Mitteln können Radiohead so etwas besser – und britischer – als die Fusionisten in aller Welt.

Radiohead: Hail to the Thief (Parlophone/EMI). Weitere Informationen: www.radiohead.com und www.radiohead.tv

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