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"Illuminance": Das stille Staunen

Die japanische Foto-Künstlerin Rinko Kawauchi zeigt die Schönheit des Alltäglichen. Ihrem Buch "Illuminance" spielt Licht eine wichtige Rolle, in seiner sanften wie in seiner grellen Form.

Oft wird ihr gesagt, sie habe die Augen eines Kindes. Rinko Kawauchi stört das nicht, im Gegenteil. „Für Kinder ist alles, was sie sehen, noch eine Entdeckung. Je älter man wird, desto mehr kommt einem dieser frische Blick abhanden“, erklärt sie. Wie sie selbst sich die Fähigkeit zum Staunen erhalten hat, das weiß die 39-Jährige auch nicht so genau. Aber ihre ganz eigene, beinahe unschuldige Perspektive auf die Welt, ihre einfachen, poetischen Bilder haben Kawauchi zur wahrscheinlich wichtigsten japanischen Fotografin der Gegenwart werden lassen.

Nun erfährt sie endlich auch Aufmerksamkeit jenseits der Heimat. Gerade hat sie in Innsbruck, in Los Angeles und Manhattan ausgestellt. Außerdem erschien vor Kurzem ihr erstes Buch außerhalb Japans, bei Kehrer in Heidelberg und zugleich bei Aperture in New York. Es heißt „Illuminance“ und versammelt, als eine Art fotografisches Tagebuch, Aufnahmen aus den vergangenen fünfzehn Jahren.

Es sind typische Kawauchi-Fotografien, die in Asien, Amerika und Europa entstanden sind, meist ohne dass man mit Sicherheit sagen könnte, wo. Denn sie zeigen Kleinigkeiten, scheinbar Unbedeutendes und Alltägliches – und ziehen den Betrachter doch in ihren Bann. Sanfte und irritierende Bilder wechseln einander ab. Mal sieht man Tautropfen auf Spinnweben, dann aneinandergedrängte Goldfische in einer Plastiktüte, mal blickt man auf die aus dem Wasser ragende Wade eines Schwimmers, dann auf ein totes, blutverschmiertes Reh am Straßenrand. Oft nähert sich Kawauchi ihren Motiven bis auf wenige Zentimeter: Wie ein Kind, das es ganz genau wissen und alles am liebsten berühren will, fixiert sie den Hinterkopf einer Frau, eine glimmende Zigarette oder die Röntgenaufnahme ihrer Wirbelsäule.

Einige dieser Bilder sehen aus wie Schnappschüsse, und das sind sie auch insofern, als dass Kawauchi einfach intuitiv festhält, was sie interessiert und bewegt. Das einzige, was die meisten der Fotografien in ihrem neuen Buch verbindet, ist die titelgebende „Beleuchtung“. Denn Licht spielt in „Illuminance“ tatsächlich eine wichtige Rolle, in seiner sanften wie in seiner grellen Form.

Rinko Kawauchi selbst wirkt so ruhig und ungekünstelt wie ihre Bilder. Sie ist eine schlanke Frau mit langen Haaren, einem wachen Blick und ohne jede Arroganz. An einem Freitagabend sitzt sie auf dem Sofa in der Lobby ihres Berliner Hotels unweit vom Alexanderplatz, hat ihren Laptop auf dem Schoß und klickt sich durch ihre neuesten Fotografien. Sie ist in der Stadt, um eine befreundete japanische Künstlerin zu porträtieren, eine Auftragsarbeit. Auf dem Flachbild-Fernseher an der Wand läuft ein Nachrichtensender, der Reaktor von Fukushima ist zu sehen. „Japan muss sich ändern“, sagt Kawauchi unverhofft. „Wir sollten neu über die Atomkraft nachdenken.“ Es sind überraschende Worte aus dem Mund einer ausgesprochen unpolitischen Künstlerin, deren Bilder ihre Kraft gerade daraus gewinnen, dass sie so privat, ja, intim wirken – ohne erkennbaren Bezug zu aktuellen gesellschaftlichen Debatten.

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Rinko Kawauchi wurde in der Präfektur Shiga im Westen Japans geboren, sie studierte Grafikdesign und entdeckte dabei die Fotografie. Vor allem das Entwickeln in der Dunkelkammer habe ihr anfangs Spaß gemacht, erzählt sie. Es folgte der Job in einem professionellen Studio, Kawauchi schoss Werbeaufnahmen, etwa von Bier. „Das war auf Dauer sehr sehr öde.“ Die Fotografien, die sie wirklich mochte, machte sie nach Feierabend.

Der Erfolg als Künstlerin kam überraschend, dafür umso gewaltiger. 2001 gewann Kawauchi den Kimura-Ihei-Preis, den wichtigsten Nachwuchs-Fotopreis des Landes. Danach brachte sie, als erste japanische Fotografin überhaupt, drei Bücher gleichzeitig heraus: „Hanako“, eine Serie von Bildern aus dem Alltag eines Mädchens, „Utatane“ (Nickerchen) und „Hanabi“ (Feuerwerk). Sie wurden von den Kritikern begeistert aufgenommen.

Die Auswahl der Fotos für ein Buch und die Gestaltung desselben gehört zu Kawauchis liebsten Beschäftigungen, aber auch zu den aufwändigsten. „Bei ,Illuminance’ hat das Monate gedauert“, erzählt sie. „Aber ich liebe Bücher, schon in meiner Kindheit habe ich gerne Zeit in Bibliotheken verbracht.“ Es ist charakteristisch für viele japanische Fotografen, dass sie ihre Bilder weniger als in sich geschlossene Einheit oder als Objekte an der Wand, sondern als Teil eines grafisch durchkomponierten Konzepts sehen: Bücher haben für die Fotokultur des Landes eine viel größere Bedeutung als anderswo. Sie sind, wie es im Essay des britischen Fotografie-Professors David Chandler zu „Illuminance“ heißt, auch „Maß für künstlerischen Erfolg und Status“. Und Rinko Kawauchi ist eine typische Vertreterin dieser Tradition.

So hat sie seit ihrem Dreifach-Debüt eine Reihe weiterer Bücher veröffentlicht, unter denen vor allem „Cui Cui“ (2005) heraussticht, eine Meditation über das Familienleben und die Vergänglichkeit. Kawauchi zeigt das Haus der Eltern auf dem Land, die Feiern, zu denen die Familie zusammenkommt, die Speisen, die dafür zubereitet werden, und schließlich das Sterben des Vaters. Die Bilder sind zart und melancholisch und manchmal fast grausam.

Kawauchi sagt, sie habe großen Respekt vor Fotografen, die vor allem konzeptionell arbeiten, vor den Düsseldorfern Bernd und Hilla Becher etwa. Ihr eigenes Werk sei weniger „straight“, mehrdeutiger, „wenn wir über das Wetter sprechen würden, würde ich sagen: nicht so trocken, eher feucht“. Man solle aber nicht glauben, ihr Stil sei das Resultat von Zufällen. „Bis ich es geschafft hatte, dass die Bilder die Dinge so zeigten, wie ich sie sah, brauchte es Jahre“, erzählt sie. „Ich habe viel mit verschiedenen Kameras experimentiert.“ Seit Langem arbeitet sie nun mit einer Rolleiflex – das Entwickeln übernimmt sie immer noch selbst –, in jüngster Zeit auch mit einer digitalen Kamera.

Auch wenn Kawauchis Bilder meist in Japan aufgenommen wurden, sie zeigen Universelles. Die Fotografin lebt in Tokio, verreist aber ständig, besonders gern nach Hawaii und Island – auch, weil es dort Vulkane gibt. „Die mag ich, ich weiß auch nicht, warum“, sagt sie und lacht.

Die Reaktionen auf ihre Fotografien ähnelten sich überall sehr. „Mir haben Menschen aus verschiedensten Ländern gesagt, dass sie beim Betrachten von ,Cui Cui’ an ihre eigene Familie gedacht haben“, erklärt die Fotografin und ergänzt: „Außerdem sagen mir die Leute, dass meine Bilder ihnen geholfen hätten, die Schönheit der Welt wiederzuentdecken – selbst in den traurigen Dingen.“

Und tatsächlich geht von Kawauchis Aufnahmen eine seltsam intensive Harmonie aus. Eine, die offenbar sogar den Großmeister des bösen Blicks besänftigen kann: Zu Kawauchis prominentesten Bewunderern gehört ausgerechnet der britische Fotograf und Provokateur Martin Parr, der dafür bekannt ist, mit Vorliebe Hässliches abzulichten.

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