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Augenzeuge des Rassismus. James Baldwin fühlte sich als Außenseiter.

© Salzgeber

Im Kino: Essay-Film „I’m not your Negro“: Das schlechte Gewissen Amerikas

Raoul Peck porträtiert in „I’m not your Negro“ den Schriftsteller James Baldwin, einen der scharfsinnigsten Kritiker des amerikanischen Rassismus zur Zeit der Bürgerrechtsbewegung.

Es ist der Anblick einer Fotografie, der den Schriftsteller James Baldwin 1957 zurück in seine Heimat führt. Weiße, wütende Gesichter, ein Mob von Frauen und Männern, Jungen und Alten, der eine fünfzehnjährige Afroamerikanerin umzingelt. Die Professorentochter Dorothy Counts ist die erste Schwarze, die nach Aufhebung der Segregation an Schulen in den Südstaaten den Weg in die heiligen Hallen des Lernens antreten darf. Sie wird ausgelacht, bespuckt, mit Steinen beworfen. „An diesem Nachmittag wurde mir klar, dass ich Frankreich verlassen musste“, schreibt James Baldwin über zwanzig Jahre später über den Moment, als er das heute ikonische Schreckensbild in einer französischen Zeitung erblickt. Er ist als junger Mann aus seinem Geburtsort Harlem nach Paris gegangen, ein schwarzer, schwuler Schriftsteller, der in Europa dem Terror des weißen Amerikas entkommen wollte. Jetzt sieht er sich wieder von ihm eingeholt.

„Paying My Dues“, meine Schuld begleichen, nennt Baldwin dieses Kapitel seines Lebens, als er 1979 beginnt, an dem Manuskript „Remember this House“ zu schreiben. Es soll seine wichtigste Geschichte werden, teilt er seinem Literaturagenten mit. Eine Rückkehr zu dem Augenblick, als der Kampf der schwarzen Bürgerrechtsbewegung von den Straßen live in die Wohnzimmer Amerikas dringt. Und eine Reverenz an die ermordeten Märtyrer Edgar Mevers, Malcolm X und Martin Luther King, die Baldwin auf seinen Reisen durch das zerrissene Land begleitete. Er entlarvt den Mythos, mit dem sich die liberale amerikanische Gesellschaft selbst belügt: dass die Ungleichheit überwunden sei und ein neues, gerechtes, ein farbenblindes Amerika diesen Platz eingenommen habe.

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Das Manuskript, das bis zu Baldwins Tod 1987 unvollendet bleibt, hat Regisseur Raoul Peck als Ausgangspunkt seines Dokumentarfilms „I’m not your Negro“ genommen. Peck ist bekannt dafür, sich für seine Filme historischer Stoffe zu bemächtigen, vergessener und vor allem im Westen verdrängter Traumata der schwarzen Geschichte, und dabei immer wieder die Grenzen zwischen Dokumentation und Fiktion zu sprengen. Auch „I’m not your Negro“ ist eine eher essayistische Annäherung an Baldwins Denken geworden. Es gibt keine talking heads, nur Baldwins literarische Stimme, gesprochen von Samuel L. Jackson.

Peck fasst sie mit Archivbildern und bewegten Aufnahmen ein: von den Freiheitsmärschen in den Südstaaten, den gewaltsamen Ausschreitungen zwischen weißen Mobs und schwarzen Demonstranten überall in Amerika und Polizeigewalt – in den sechziger Jahren in Birmingham, heute in Ferguson, Chicago, Detroit. Es sind fast dieselben Bilder: Niedergeknüppelte Afroamerikaner, brennende Häuser, im Schrei verzerrte Gesichter. Die Reise in die Vergangenheit wird zur Konfrontation mit der Gegenwart. Für Baldwin war schon damals beides unabdingbar miteinander verzahnt.

Er sieht die Verhältnisse mit einer Klarheit, die seiner Zeit weit voraus ist. Er lehnt jede Zuschreibung ab, auch die des Sprachrohrs des schwarzen Amerikas, die er mit seinem Essay „Hundert Jahre Freiheit ohne Gleichberechtigung“ erfährt. Baldwin sieht sich in der Rolle des Zeugen, nicht des Aktivisten. Aus dem reichen literarischen Œuvre dieser Jahre kreiert Peck ein Amalgam, das die Psychopathologie und paranoide Imagination des weißen Amerikas offenlegt, im Privatleben wie in der Populärkultur.

Entsexualisierte Sexsymbole, loyale Unterdrückte

Der „Negro“ wird zur Erfindung, dem man in Hollywood vor allem in der Figur des devoten, treuen Dieners begegnet. Zeitgenössische afroamerikanische Schauspieler wie Sidney Poitier sind gefangen in der Darstellung dieses Stereotyps: entsexualisierte Sexsymbole, loyale Unterdrückte, die zu ihren Peinigern halten, egal wie groß ihre Qual auch ist. Wenn Poitier am Ende des Häftlingsdramas „Flucht in Ketten“ von 1957 vom Zug springt, um seinen rassistischen weißen Gefährten nicht alleine dem Sheriff auszuliefern, „freuen sich die weißen Liberalen in Downtown“, schreibt Baldwin 1976 in „Teufelswerk“, denn sein Opfer stehe dafür ein, dass der Afroamerikaner sie trotz allem nicht hasse. „Wenn Schwarze die Szene sehen, denken sie sich, du Idiot! Spring zurück auf den Zug!“

Das weiße, liberale Amerika narkotisiert sich mit dieser medialen Fantasiewelt, hält in ihr die Illusion der eigenen Unschuld aufrecht. Es verweigert sich der Auseinandersetzung mit der von Sklaverei, Segregation und Unterdrückung geprägten Geschichte, die Baldwin immer wieder fordert und deren Ausbleiben den 1987 im Exil in Paris verstorbenen Romancier an seinem Lebensende in die Depression treibt.

In den USA wird Baldwin gerade als zentrale Figur des afroamerikanischen Diskurses wiederentdeckt. Initiativen holen seine Werke zurück in den Lehrplan von Schulen, Stimmen der neuen Generation wie Ta-Nehisi Coates beziehen sich direkt auf ihn. Pecks eindrucksvolle Hommage reiht sich in diese Erinnerungsarbeit ein. Ihm ist mit „I’m not your Negro“ ein pointierter Essay über Amerikas tief sitzenden Rassismus und ein Höhepunkt seines politischen Weltkinos gelungen. Ein Film der Stunde, dessen Botschaft und Botschafter nichts an Relevanz verloren haben.

In 8 Berliner Kino, alle in OmU

Giacomo Maihofer

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