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Königin des Schwerts. Shu Qi als Nie Yin-Niang – frei nach der gleichnamigen Erzählung des Tang-Dichters Pei Xing.

© Delphi Filmverleih

Im Kino: "The Assassin": Die Undurchdringlichen

Pure visuelle Poesie: Hou Hsiao-hsiens betörende Martial-Arts-Fantasie „The Assassin“.

Von Gregor Dotzauer

Lange bevor Meursault, der fühllose Mörder in Albert Camus’ Roman „Der Fremde“, die zärtliche Gleichgültigkeit der Welt entdeckte, klagten andere über ihr grausame Gleichgültigkeit. Ob nun aber die Zärtlichkeit oder die Grausamkeit überwiegt, schon die Gleichgültigkeit ist eine trügerisch anthropomorphe Empfindung. Taiwans renommiertester Regisseur Hou Hsiao-hsien führt in „The Assassin“ mit ruhigen elliptischen Erzählbewegungen hinein ins Auseinanderstreben von menschlichem Handeln und natürlicher Ordnung, in das große Nebeneinander von Bewusstem, Unbewusstem und Bewusstlosem. Und er fügt es zu jenem Ganzen zusammen, in dem vielleicht nicht alles seinen Sinn, doch zumindest seinen Platz hat. Die eherne Abfolge von Tag und Nacht, das Vergehen der Jahreszeiten, das Miteinander von Tieren und ihren Hütern, das Aufziehen von Wettern und Leidenschaften, das Zwitschern der Vögel und das Singen der Schwerter, das Aufflammen von Mordlust und Machtgier.

Ein Reich im Zerfall. In Weibo, einem nicht mehr existierenden nordchinesischen Bezirk in der heutigen Provinz Hebei, regiert im neunten Jahrhundert mit Tian Ji’an (Chang Chen) ein Gouverneur, dessen Eigensinn dem Kaiser bedrohlich erscheint. So schickt er ihm die von einer daoistischen Nonne zur Profi-Attentäterin ausgebildete Nie Yin-Niang (Hous Lieblingsschauspielerin Shu Qi) auf den Hals. Für sie ist es nicht nur die größte Bewährungsprobe: Es ist eine Aufgabe, die sie in private und politischen Gewissenskonflikte stürzt.

Als Cousine war sie ihm einst als Braut versprochen. Mittlerweile befindet er sich in den Fängen einer intriganten Ehefrau und erholt sich bei einer Konkubine, die ein Kind von ihm erwartet. Sie alle haben klare Interessen und Motive, doch keine psychologische Konstitution. Ihre Möglichkeiten, auf den Gang der Dinge einzuwirken, sind begrenzt, und was selbst bei gutgemeinten Aktionen herauskommt, illustriert die Geschichte vom blauen Vogel im Kaiserpalast, die Hou erzählen lässt: So allein, wie der Vogel war, wollte er auch nach drei Jahren nicht singen. Also kam die Kaiserin auf die Idee, seine Einsamkeit zu mildern, indem sie einen Spiegel vor ihm aufstellte. Und siehe: Der Vogel begann zu tanzen, er tanzte die ganze Nacht hindurch. Am nächsten Morgen war er tot.

Unantastbare Schönheit

Man kommt den Figuren, und das liegt auch an den zahllosen Totalen und Halbtotalen, bei alledem nicht wirklich nahe. Hou hält sie auf Abstand, wie sie sich einander notfalls mit dem Schwert vom Leibe halten. Sie fügen sich ein in ein Erzählen, bei dem den Bergen und Feldern mindestens so viel Bedeutung zukommt wie den Menschen. Insbesondere Yin-Niang, deren stolze, schweigsame, unantastbare Schönheit nur von einer Handvoll Sätze gestört wird, gestattet keinen Blick in ihre Seele.

Wuxia heißt die literarische und kinematografische Gattung, an der sich Hou hier versucht – und die einmal im Leben zu bedienen offenbar der Traum jedes chinesischen Regisseurs ist. Mit Jia Zhang-ke bereitet gerade der bedeutendste Regisseur des Festlands seinen Beitrag vor. Mit ihren fantastischen Elementen und konfuzianischen Ehrvorstellungen gehorcht Wuxia allerdings Genreregeln, die Hou weitgehend ignoriert.

Die spärlichen Kampfszenen verzichten auf digitale Effekte – sie gehören zum materiellen Inventar eines bei aller Stilisierung nach wie vor neorealistischen Duktus. Zugleich ist Hou nie assoziativer mit seinem Material umgegangen. Für „The Assassin“ drehte er zwanzig Mal mehr als für seine bisherigen Filme. Den anschließenden Schneideprozess durchlebte er in einem Zustand zwischen Wachen und Träumen. Herausgekommen sind 114 Minuten reiner visueller Poesie.

OmU im Delphi, FaF, fsk, Kant, Rollberg

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