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Widerstandshelden. Hans Scholl und sein Freund Alexander Schmorell (links) 1942 an der Ostfront. Foto: AKG

© akg-images / Wittenstein

Kultur: Im Krieg um die Wahrheit

Kopf der Weißen Rose: Barbara Ellermeiers dichte Beschreibung des kurzen Lebens von Hans Scholl.

Seine letzten Worte sind: „Es lebe die Freiheit!“ Als Hans Scholl am 22. Februar 1943 im Gefängnis München-Stadelheim hingerichtet wird, ist er 24 Jahre alt. Vier Tage vorher war er mit seiner Schwester Sophie in der Münchner Universität beim Verteilen von Flugblättern verhaftet worden, die „im Namen des ganzen deutschen Volkes“ vom NS-Staat das „kostbarste Gut der Deutschen“ zurückforderten: die Freiheit. Derlei galt im nationalsozialistischen Deutschland als „Vorbereitung zum Hochverrat, Feindbegünstigung und Wehrkraftzersetzung“. Der Präsident des Volksgerichtshofs, Roland Freisler, reiste eigens aus Berlin an, um das Urteil gegen die Geschwister und ihren Freund Christoph Probst zu verkünden: Tod durch das Fallbeil. Die Details von Scholls Hinrichtung finden sich in einem Protokoll: „Die Gehilfen des Scharfrichters führten ihn an die Fallschwertmaschine, auf welcher er unter das Fallbeil geschoben wurde. Scharfrichter Reichhart löste sodann das Fallbeil aus, welches das Haupt des Verurteilten sofort vom Rumpfe trennte. Von der Übergabe an den Scharfrichter bis zum Fall des Beiles vergingen 07 Sekunden.“

Sieben Sekunden. Mit dieser Szene ist das Buch, das die junge Historikerin Barbara Ellermeier über Hans Scholl geschrieben hat, noch nicht vorbei. Es folgen noch knapp dreißig Seiten über das Schicksal seiner Familie und der Gefährten aus der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“. Der Vater Robert Scholl, der aus seiner Ablehnung des Regimes nie ein Hehl gemacht hatte und schon einmal inhaftiert war, weil er Hitler eine „Geißel Gottes“ nannte, landet erneut im Gefängnis. Alexander Schmorell versteckt sich eine Nacht lang im Englischen Garten und wird festgenommen, als er in der Wohnung einer Bekannten unterschlüpfen will. Die Gestapo arbeitet gründlich und gnadenlos. So wird das zweite Verfahren gegen die Gruppe anders als das erste kein kurzer Schauprozess, sondern ein penibel organisiertes Gerichtsunternehmen nach allen Regeln der NS-Justiz, an dessen Ende im April 1943 drei weitere Todesurteile stehen, gegen Kurt Huber, Willi Graf und Alexander Schmorell.

Ellermeiers Buch ist die erste Biografie über Hans Scholl. Das überrascht, denn die Geschwister Scholl und ihre Freunde von der Weißen Rose waren schon bald nach Kriegsende quasi zu mythologischen Figuren aufgestiegen, zur Verkörperung des Guten in einer Welt des Bösen. Statt mit Waffen hatten sie mit Worten gekämpft. Das machte sie zu idealen Projektionsflächen. Beide deutsche Staaten beriefen sich auf ihr Erbe und ehrten sie, indem sie Straßen, Schulen und Jugendzentren nach ihnen benannten. Allmählich verschwanden die Widerstandshelden im Nebel der Gedenkrituale. Schärfere Konturen haben sie erst in den letzten Jahren bekommen. Der Spielfilm „Sophie Scholl – die letzten Tage“ (2005), der auf neu entdeckten Verhörakten beruhte, zeichnete das Bild einer Rebellin, die ihren Widersachern buchstäblich bis in den Tod trotzt. Daran knüpfte Barbara Beuys mit einer gründlich recherchierten Biografie (2010) an, die Sophie Scholl als Realistin porträtierte, die „das Denken den Schwärmen vorzog“ .

Hans Scholl ist schwerer zu fassen. Er war der Gründer der Gruppe, dominierte die Diskussionen und trieb die Aktionen voran. Man muss ihn sich wohl als Charismatiker vorstellen und als gut aussehenden Medizinstudenten, dem die Frauen nachliefen. „Nein, es ist doch wirklich toll, alles ist verliebt in Scholl“, dichtete ein Mädchen, das mit ihm im gleichen Haus lebte. Doch der Anführer war auch ein Einzelgänger, der Wert legte auf innere Unabhängigkeit. Barbara Ellermeier nennt Hans Scholl einen „Kontaktmensch“, zitiert aber auch seinen engsten Mitstreiter Schmorell, der ihn als „einsam“ charakterisierte.

Von Freundinnen trennt sich Scholl am liebsten, indem er einfach nichts mehr von sich hören lässt. Bei Konflikten geht er schnell auf Tauchstation, im Grübeln und in der Absonderung sucht er einen Ausweg. Den Militärdienst verachtet er so sehr, dass er sich von den Kameraden fernhält. Aber im Krieg, in den er als Sanitäter einrücken muss, sieht er auch eine Chance, Klarheit zu finden: „Dieser Krieg ist im Grunde ein Krieg um die Wahrheit“, schreibt er an eine Freundin. „Alle falschen Throne müssen erst zersplittern, dies ist das Schmerzlichste, um das Echte unverfälscht erscheinen zu lassen.“ In diesem Idealismus schwingt das Bewusstsein mit, einer Elite anzugehören. Scholl war, wie seine vier Geschwister, zunächst begeistert in die NS-Jugendorganisation eingetreten und bis zu einem „Stammführer“ des Ulmer „Jungvolks“ aufgestiegen. Beim Reichsparteitag 1936 hat er eine Fahne an Hitler vorbeigetragen. Zum Bruch kam es, als er – damit setzt die Biografie ein – 1937 zehn Tage im Stuttgarter Untersuchungsgefängnis verbringen musste. Ihm wurde vorgeworfen, die Traditionen der verbotenen bündischen Jugendbewegung fortgesetzt zu haben.

Vom Zweifler über den Dissidenten, der seine Haltung nur Vertrauten offenbart, bis zum Aktivisten ist es ein weiter, nicht immer geradliniger Wegl. Dabei helfen Scholl seine Verwurzelung im Protestantismus und eine Familie, die, so Ellermeier, bemüht ist, „bei aller Lüge einen Kreis von Wahrheit um ihn zu bilden“. Wann der Entschluss reift, etwas unternehmen zu müssen gegen das Regime? Schwer zu sagen, ein genaues Datum gibt es nicht. Von der Schoah erfährt Scholl spätestens im Herbst 1941, als seine Mutter in einem Brief die Kriegserlebnisse eines Bekannten aus Lettland referiert: „Die Erwachsenen männl. und weibl. wurden alle erschossen, die Kinder bekamen Spritzen. Die Juden hätten geschrieen, bes. die jungen Mädchen.“

Im Winter darauf führt Hans Scholl „Skizzengespräche“ und „Gespräche über Verantwortungsgefühl“ mit Alexander Schmorell, der als Sohn einer russischen Mutter und eines deutsch-russischen Vaters den Nationalsozialisten ohnehin distanziert gegenübersteht. Im August 1942 schreibt Scholl an der russischen Front in sein Tagebuch: „Ich bin der einzige Spaziergänger inmitten eines sinnvollen Unsinns.“ Welchen Sinn kann er meinen? Vielleicht den: Er liest Dostojewski, lernt Russisch und besucht, wenn er nicht im Lazarett gebraucht wird, mit Schmorell russische Bauern. Ihre ersten Flugblätter hatten die beiden Rekruten einer Studentenkompanie da bereits in München auf den Weg gebracht.

Barbara Ellermeier verbindet Zitate aus Briefen, Tagebüchern und Flugblättern, Auskünfte aus Akten und von Zeitzeugen zu einer dichten Beschreibung dieses kurzen, getriebenen Lebens. Sprachlich schießt sie manchmal über das Ziel hinaus, etwa, wenn sie Scholls Arbeit als Mediziner mit Hitlers Expansionsdrang vergleicht: „Während der Student Medizinvorlesungen besucht und Leichen seziert, bereiten der ,Führer’ und sein Oberkommando ganz andere Operationen vor. Wie leblose Patienten zerrt Hitlerdeutschland seine Nachbarländer auf den Sektionstisch.“ Am Schluss, wenn sie die letzten Aktionen der Gruppe schildert, und mit Verhörprotokollen der Gestapo, Flugblattzeilen und Ausschnitten aus Goebbels’ Rede vom „totalen Krieg“ zwischen den Perspektiven der Widerständler und ihrer Verfolger hin- und herschaltet, wird das Buch zum Thriller.

Zum Umfeld der Weißen Rose gehörte auch Otl Aicher. Er war vier Jahre jünger als Hans Scholl und ein Schulfreund von dessen Bruder Werner. Den NS-Jugendorganisationen verweigerte er sich konsequent, später desertierte er und wurde von der Familie Scholl bis zum Kriegsende versteckt. Für Hans Scholl war er eine Zeit lang einer der wichtigsten Gesprächspartner, vielleicht weil er in dem knorrigen Verweigerer einen Seelenverwandten erkannt hatte. 1952 heiratete Otl Aicher Inge Scholl, die ältere Schwester von Hans und Sophie. Mit ihr gründet er in Ulm eine Volkshochschule und später die berühmte Hochschule für Gestaltung. Mit der opulent ausgestatteten Biografie „otl aicher, gestalter“ setzt Eva Moser dem 1991 verstorbenen Designer nun ein schönes Denkmal. Aicher war ein streitlustiger Visionär, der das visuelle Konzept der Olympischen Spiele von München 1972 schuf und die „Autonome Republik Rotis“ gründete. Moser zeigt ihn nicht ohne Wärme als „nicht widerspruchsfreie Persönlichkeit“. In seinem Werk ist auch etwas von den Ideen der Geschwister Scholl im Design der Bundesrepublik angekommen.

Barbara Ellermeier: Hans Scholl. Biographie. Hoffmann & Campe, Hamburg 2012. 431 Seiten, 24,99 Euro.

Eva Moser: otl aicher, gestalter. Hatje Cantz, Ostfildern 2012. 456 Seiten, 38 Euro.

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