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Kultur: Im Rausch der Untiefe

„Ring“-Auftakt in Bayreuth: Thielemann triumphiert, Tankred Dorsts Regie lässt auf sich warten

Seit 130 Jahren gibt es zwei Arten des Wagner-Schwitzens: Die einen halten durch, lange durch, profitieren vom luftig genähten Gewand, vom Fächer des Vordermanns und von der Gnade der vegetativen Selbstbeherrschung – und dann, schlagartig, bricht es ihnen aus allen Poren. Die anerkannte Schmerz- respektive Schweißgrenze dürfte hier bei knapp zwei Stunden liegen. Die anderen hingegen haben sich kaum niedergelassen auf den cordbezogenen Holzklappsitzen des Bayreuther Festspielhauses, da klebt und perlt und rinnt und strömt es schon. Erst die Verdunstung der Feuchtigkeit auf der Haut schafft ihnen Linderung, mit der Zeit. So oder so: gehupft wie gesprungen?

Für eine angemessene Beurteilung des „Rheingolds“ wäre die zweite Variante von Vorteil. Ein trockenes Ende – und schon schwillt das Selbstbewusstsein, wähnt man sich angesichts des sich anbahnenden Jahrhundertsommers stark genug auch für den zweiten und dritten Akt, für „Walküre“ und „Siegfried“ und die ganze „Götterdämmerung“. Christian Thielemann aber, der Dirigent des neuen Bayreuther „Rings“, macht, dass sich am Ende dieses mit Spannung erwarteten Vorabends alle, restlos alle selig in den Armen liegen: die Früh- und die Spätschwitzer, die Analytiker und die Rauschsüchtigen, die Stimmfetischisten, die Klangbader, die heimlichen Deutschtümler, die unverbesserlichen Dialektiker und die Erzkonservativen. Ein Wunder. Erlebte, erarbeitete, hochgeglückte Demokratie, vom ersten Kontra-Es des Vorspiels an, welches aus den Ur-Flözen der Partitur hervorglimmt und so lange schwärt, bis auch die letzten Huster und Hektiker im Saal vor sich selbst erschrecken.

Dafür und für eine unerhört lyrische, gestische, prickelnd sinnliche, makellos transparente Lesart – Ovationen. Nach schlanken zweieinhalb Stunden (Simon Rattle braucht nur sieben Minuten länger!). Und immer wieder: Thielemann allein vor dem Vorhang, strahlend, ja förmlich von innen her leuchtend unterm Stehkragenschwarz. Ein Haus – und das meint: eine Architektur, eine Akustik, ein Graben! – hat definitiv seinen Hüter und primo uomo gefunden. Und ein Stück seinen fürsorglichen Liebhaber.

In Bayreuth mag es schon ausufernderen Applaus gegeben haben. Je länger das Publikum freilich auf das Regieteam um Tankred Dorst wartet (dieses will sich offenbar dem Ganzen stellen, wird sich also erst nach der „Götterdämmerung“ zeigen), desto freier, reicher tönt der Jubel. Auch für die Sänger: für Falk Struckmanns jungen, vielversprechend vitalen Wotan (dessen Bass gegen Schluss freilich etwas an göttlicher Hybris und Farbenpracht einbüßte), für Michelle Breedts hingebungsvolle, betörend klug und klangschön agierende Fricka, für Arnold Bezuyens sarkastisch-selbstzufrieden fabulierenden Loge, für Andrew Shores grandios geifernden, kreatürlichen Alberich, für Gerhard Siegels schmerzlich timbrierten Mime, für Mihoko Fujimuras Erda, auch für Riesen (Kwangchul Youn, Jyrki Korhonen), Rheintöchter (Fionnua-la McCarthy, Ulrike Helzel, Marina Prudenskaja) und Nebengötter (Ralf Lukas als Donner, Clemens Bieber als Froh). Einzig Satu Vihavainens Freia fiel durch ihren blechernen Sopran unangenehm auf.

Dorsts Erscheinen hätte all diesen lachenden Gesichtern vermutlich wenig anhaben können. Um sich über seine Nicht-Regie lauthals zu empören, fehlt der rechte Anlass, die Kraft oder auch die Lust. Sänger in wulstigen Fantasy-Kostümen (Bernd Skodzig) ergehen sich vor Frank Philipp Schlössmanns müden, brav szenenweise wechselnden Kulissen (der Grund des Rheins, ein modernes Hochhausdach, eine Art Heizungskeller) in peinlichen Posen. Spielbein, Standbein, Streck-den-Arm. Und möglichst von jedwedem etwas, als versehe hier eine 130-jährige „Ring“-Zeitschleuder ächzend ihren Dienst. Die Geburt des Bärenfells aus dem Geist ratloser Selbstüberschätzung, himmelschreiend fehlendes Handwerk.

Im Grunde verhält es sich auf dieser Bühne so, wie Alexander Marco-Buhrmester, der „Götterdämmerungs“-Gunther, gestern im Interview mit dem „Nordbayerischen Kurier“ freizügig zu Protokoll gab: Das Ehepaar Dorst habe auf den Proben lediglich Ideen geliefert, auf dass die Regieassistentin Nicola Panzer entsprechende „Stellarbeit“ verrichten konnte. Den Rest an Drama, Beziehung und Psychologie hätten die Darsteller selbst zu verantworten gehabt. Der Mann mag ein notorischer Nörgler sein oder todesmutig: Er hat Recht. Fahrlässiger kann eine Festspielleitung mit einem Prestige-Projekt wie diesem kaum umgehen. Dass Lars von Trier, der ursprünglich auserkorene Regisseur, in letzter Sekunde absagte, reicht als Rechtfertigung nun wahrlich nicht überallhin.

Dabei wäre das eine oder andere lächerliche Detail gewiss zu verhindern gewesen. Der Tourist beispielsweise, der im zweiten Bild die Götter kreuzt und diese partout nicht sieht (ebenso wie der Nibelheim’sche Heizungsableser ein Bild später und die raufenden Kinderlein am Schluss); die saurierhaft sich aufbäumende, bonbonbunte Klapperschlange, in die Alberich sich mittels Tarnhelm verwandelt; Wotans Schildkrötenauge, das wie die Heilige Dreifaltigkeit über die Szene wacht. Am ärgsten aber gestaltet sich das Verenden und Wiedererstarken der Götter nach Freias Entführung und Rückkehr: dilettantisch antikisierte Figuren im noch dilettantischeren Wilson-Choreografie-Verschnitt, wie frisch der Gipsformerei des Charlottenburger Schlosses entsprungen. Oder wie Max und Moritz dem Trog des Bäckers.

Gemessen an derlei Ausdrucksverhinderungsmaßnahmen schlagen die Sänger sich redlich. Und Thielemann animiert, wie gesagt, das glänzend motivierte Festspielorchester mit wunderleichter Hand zu immer neuen Göttertaten. Die paradiesische Frische des Rheingold-Motivs! Der federnde Spott, wenn der Riese Fasolt Wotan dessen ureigenste Raison d’être vorhält („Was du bist, bist du nur durch Verträge“). Oder die blühende Zartheit seiner ungeschlachten, hoffnungslosen Liebe zu Freia. Die Sänger bringen den Mut auf, hin und wieder allem Schönklang abzuschwören, einzelne Wörter zu rufen, zu zischen, zu stöhnen. Und mit gleichsam schmutziger Emphase wird im Orchestergraben Alberichs goldtrunkener Größenwahn kommentiert.

Gewiss, ein klein wenig hält Christian Thielemann sich die Augen zu. Seine Naivität ist eine Naivität um jeden Preis. Das Fließen und virtuose Parlieren im mystischen Abgrund, es will nichts wissen von all den kommenden Scheußlichkeiten. Bis jetzt, sagt Thielemann, ist hier noch gar nichts bitter oder tragisch. Und am Ende wird sich zeigen, ob Wagners Gesamtkunstwerk sich nicht auf die eine oder andere Weise rächt für den eklatanten Riss zwischen Regie und Musik. Und ob sich nicht just darüber die Gemüter und Brüder und Schwestern im Schweiße doch wieder entzweien.

Christine Lemke-Matwey

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