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Kultur: Im Schatten des Lindenbaums

Wer kennt heute noch Hugo Wolf? Wer liebt die Herzgewächse von Brahms? Eine Verteidigung des Liedgesangs

Die schönste Geschichte über Dietrich Fischer-Dieskau erzählt Julia Varady, seine Frau. Sie handelt von ihrer ersten Begegnung und spielt 1973 an der Bayerischen Staatsoper in München. Puccinis „Il tabarro“ (Der Mantel) steht auf dem Probenplan, Fischer-Dieskau gibt den Schiffer Michele, Varady die Giorgetta. Zur Begrüßung der jungen Kollegin erhebt sich Dieskau, ganz Gentleman, von seinem Stuhl und wird, so schildert es Varady, länger und länger und länger – „wie eine Tanne so hoch“. „Fi-Di“ lebens-, überlebensgroß, ein Riese, ein Hüne, womit sich das epitheton ornans vom „großen Sänger“ endlich auch einmal leibhaftig bewahrheitet hätte.

Die Tanne. Ein ziemlich deutsches Nadelgewächs , aufrecht, dunkel, mit fedrig ausschwingenden Ästen einen Furcht erregenden Radius spannend. Im Schatten einer Tanne gedeiht nicht viel. Und das ist das Problem. Wer heute Lieder singt (so genannte Kunstlieder im Gegensatz zu so genannten Volksliedern), der singt, ob er will oder nicht, wie Dieskau. Wer sich heute mit der romantischen Selbstvergewisserungsdrangsal, den Sehnsuchtsländern und Herzgewächsen eines Schubert, Schumann, Brahms oder Wolf beschäftigt, der hat unweigerlich Dieskau im Ohr und, pardon, vor der Nase. Denn die, die unten sitzen, im Saal, haben auch alle Dieskau im Ohr, seine „Winterreise“, „Dichterliebe“, „Schöne Magelone“.

Die Überalterung des Klassikpublikums mag sprichwörtlich sein. Bei Liederabenden kommt, außer ein paar Gesangsstudenten, nur mehr die Generation 70+. Das wiederum hat damit zu tun, dass alle Welt wie Dieskau klingt und singt.

Dabei kann der Liedsänger heute – mag er nun Thomas Quasthoff heißen, Matthias Goerne, Thomas Hampson, Ian Bostridge oder Christian Gerhaher – so viel wie nie. Altes wie Neues. Künstlerisch wie körperlich. Denn natürlich ist er auch Opernsänger (das war er immer) und längst wird ihm auf der Bühne jede gepflegte Rampennähe, jedes ölgötzengleiche Nur-Sängertum verwehrt. Nennen wir es die Professionalisierung eines lange als betulich, ja hypochondrisch geltenden Berufsstandes: Der Interpret des frühen 21. Jahrhunderts singt auch noch, überspitzt formuliert, wenn man ihn nackt auf den Kopf stellt. Die inszenierten Liederabende eines Herbert Wernicke oder Christoph Marthaler haben daraus in den neunziger Jahren die ästhetischen Konsequenzen gezogen. Ausdrucksvirtuosen wie Christoph Homberger oder Ueli Jäggi wurden in Perserteppiche gewickelt und grüßten aus knarzenden Flügelbäuchen. Das muss vielleicht nicht immer sein, aber eine mögliche Utopie des Liedgesangs, sie ginge jenseits aller knöchern-akademischen Elaborate durchaus in diese Richtung.

Jochen Kowalski etwa, der Counter-Tenor, hat stets etwas Entrücktes, Verrücktes, Verlorenes, wenn er Schubert singt; der Vokalist David Moss, der in Hans Neuenfels‘ Salzburger „Fledermaus“ einen koksenden Prinzen Orlovsky gab, hätte ebenfalls das Zeug zum Liedsänger der Zukunft; auch Iwan Rebroff könnte sich hier eignen, der den Orlovsky immerhin auf Platte gesungen hat (übrigens die Inkarnation einer astronautisch einsamen, weltlosgelösten Figur); und Harald Schmidt wäre natürlich aufschlussreich, legte man ihm, dem ausgebildeten Schauspieler, den „Musensohn“ vor oder, ach, die „Forelle“. Sehnsucht nach unentfremdetem, authentischem Gesang? Nach weniger Kunst- Kunst, weniger Wohllaut – und mehr Wahrheit? Ja. Ja.

Wer dagegen heute wie Fischer-Dieskau Lieder singt, der betreibt Textexegese, schöpft den Klang ganz aus dem Wort. Kontrolliert jederzeit den eigenen Ausdruck, schmiedet Konzepte wider das Risiko und die Verführerkraft des Augenblicks. „Früher“, vor dieser Intellektualisierung, hat es im Liedgesang gewiss mehr klebriges Pathos gegeben, aber auch mehr Dringlichkeit, mehr unverstellte Echtheit. Bei der Sopranistin Lotte Lehmann beispielsweise, die, wie der Plattenproduzent Walter Legge listig meinte, nie auch nur „einen einzigen jungfräulichen Ton“ von sich gegeben hat und selbst Schumanns häkelspitzenbesetzten Chamisso-Zyklus „Frauenliebe und -leben“ als singendes Erotikon durchpflügte. Bei Julius Patzak, der auf seinen späten Liedplatten fast nur mehr sprach und dies mit Wiener Dialekt. Und natürlich bei Peter Anders, dem Tenor, der in den letzten Kriegswintertagen des Jahres 1945 mit dem Pianisten Michael Raucheisen im Haus der Reichsrundfunkgesellschaft an der Berliner Masurenallee eine „Winterreise“ einsang, in der – bis heute einzigartig – alles zusammenkam: Schubert hautnah, nein: hautlos und für die Ewigkeit. Und zwar gerade weil diese Aufnahme ihre eigene Zeit so schonungslos transparent macht, so gespenstisch durchhörbar. Noch 60 Kilometer bis zur Roten Armee, die Stadt liegt in Trümmern, und im Herzen, da grünt der Lindenbaum? Anders und Raucheisen besingen hier den Abschied von jener butzenscheibenseligen Weltflüchtigkeit, die sich nach 45 endgültig verbot – und die einen Dietrich Fischer-Dieskau zum „Meistersänger“ werden ließ, zum Monolithen seines Fachs.

Ein Zurück gibt es nicht. Wer seine Unschuld verloren hat, erringt sie nicht dadurch neu, dass er die Augen zukneift. Allerdings sieht sich der heutige Liedsänger der Schwierigkeit ausgesetzt, dass er selbst mit den offensten Augen wenig entdeckt, was ihn jenseits des Naiven und jenseits des angegrauten, in Ermangelung glaubhafter Alternativen immer noch gültigen Sentimentalisch-Intellektuellen irgendwie legitimieren würde. Vielleicht taugt der Liedgesang, dieses Seelenzwiegespräch, tatsächlich nicht fürs Hier und Jetzt (und das Publikum hat Recht); vielleicht bedeutet er nur Reminiszenz, Sentimentalität, Nostalgie. Fischer-Dieskau hat seinerzeit das ganze Repertoire entrümpelt, ja säkularisiert. Durch diese beklemmend leeren Räume schreiten wir noch heute. Metaphysisch werden will hier so schnell keiner mehr.

Was heute zählt, ist Wissen. Und das Individuelle, die eigene Lebenswirklichkeit. Thomas Hampson etwa, Bariton, fertigt seine eigenen kritischen Liededitionen an. Der britische Tenor Ian Bostridge ist promovierter Historiker und kennt sich, wie der Booklet-Text zu seiner jüngsten Einspielung der „Schönen Müllerin“ belegt, in Freuds „Ätiologie der Hysterie“ bestens aus. Christian Gerhaher, ebenfalls Bariton, ist Doktor der Medizin, und Thomas Quasthoff, mehrfacher Grammy-Preisträger, hat das Leben als Contergan-Geschädigter nun wahrlich von einer anderen Seite kennen gelernt. Die Fragen, die daraus folgen, sind heikel: Hört man das? Und: Was nützt es?

Sie alle singen unglaublich gut – und sagen unglaublich wenig. Ein Panzer aus Perfektion. Gerade deshalb ernüchtern etliche Neuerscheinungen. Bostridges „Müllerin“ (mit Mitsuko Uchida am Klavier) beispielsweise ist reine Konzeptkunst. Keine Note bleibt hier auf der anderen, Schubert doziert über Schubert. Und Christian Gerhahers „Dichterliebe“ kommt, bei allem Schönen, so schüchtern daher, so blaustrümpfig, dass man sich kaum traut, sie anzuhören.

Aber dann geht es eben doch. Dann veröffentlicht die EMI 20, 30 Jahre alte Liedplatten mit der Mezzosopranistin Brigitte Fassbaender (bislang Volume I – IV), und das Genre hat wieder Kopf und Bauch und frischen Witz. Was wäre passiert, fragt man sich, wenn sie Dieskaus Stellenwert besessen hätte? Würden die Jungen das Gute, Echte, Wahre heute bei Wolf und Mendelssohn suchen? Wäre gar eine ganz andere Interpretengeneration nachgewachsen? Vielleicht. Gewiss.

Fassbaender nämlich singt, als würde sie bloß sagen, aber sie singt. Eine Bekenntnis-Künstlerin mit funkelndem Burgunder-Timbre, die nie nur „objektiv“ sein konnte. Solches Sich-die-Brust-Aufreißen macht angreifbar. Für das Lied im 21. Jahrhundert bedeutet es die letzte Rettung. Denn nur so wird der Zuhörer noch zu gewinnen sein: als Mitliebender, Mitleidender, Mitstreitender. Als Mensch, der sich in einer Kunst selbst begegnet, die immer auch reicher ist, tröstlicher als jede Zeit und jedes Nachdenken darüber.

Christine Lemke-Matwey

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