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Kultur: Im Schmetterlingsnetz

Fiona Tan fängt Berliner Typen mit der Kamera: 200 Gesichter in der Akademie der Künste

Sie hätte eigentlich sofort anfangen sollen zu arbeiten, als sie im April 2001 als daad-Stipendiatin nach Berlin kam, erzählt die Videokünstlerin Fiona Tan. Aber sie hat lieber den ganzen Tag aus dem Fenster geschaut, ist durch Parks gestreift, hat Menschen beobachtet. Sieht man jemandem aufmerksamer ins Gesicht in einer fremden Stadt, in einem fremden Land? Dort, wo nicht Sprache ablenkt von der Wahrnehmung? „Meine hungrigen Augen“, hat die 1966 in Indonesien geborene und heute in Amsterdam lebende Künstlerin ihre Berliner Blicke beschrieben. Sie hat die Stadt in sich hineingetrunken.

Auf der Documenta 11 in Kassel war in diesem Sommer in einem dunklen Raum des Fridericianums das Ergebnis dieser Berliner Monate zu sehen: „Countenance“ versammelt 200 Berliner Gesichter, wie ein Triptychon auf drei Videoleinwänden nebeneinander projeziert. Das Prinzip ist einfach: Fiona Tan ordnet nach Berufen, blendet immer kurz die Berufsbezeichnung ein, auf Deutsch und Englisch, und dann sieht man einige Sekunden den Porträtierten, wie er möglichst ernst und reglos in die Kamera blickt. Es war einer der wenigen magischen Orte der so wuselig-weltläufigen Documenta, ein Raum, den man schwer verließ. Die endlose Folge gleichförmiger Schwarz-Weiß-Bilder erzeugte einen unwiderstehlichen Sog. Es war das Gesicht unser Zeit, in das man blickte. Die Zeit blickte reglos zurück.

Doch die Porträtierten, obschon ganz heutig, wirken zeitlos. Die Arbeit, Kernstück einer Ausstellung jüngerer Werke in der Akademie der Künste, zeigt nicht das hippe Berlin, auch wenn Journalisten, Schauspieler, Galeristen und Autoren unter den Porträtierten sind. Viel mehr sind Vertreter von Berufen zu sehen, von denen man eigentlich dachte, dass es sie nicht mehr gibt: Korbflechter zum Beispiel, Ofensetzer, Futonmacher oder Fahrender Geselle. Daneben aber auch Dönerverkäufer, Taxifahrer, BVG-Kontrolleure .

Sie alle sind in ihrem gewöhnlichen Arbeitsumfeld aufgenommen, sachlich, genau, distanziert. Fiona Tan hat von Schnappschüssen gesprochen, davon, dass sie Gesichter sammle wie im 19. Jahrhundert die Amateurbiologen Schmetterlinge. Und doch steckt hinter ihren Arbeiten, auch hinter dem ebenfalls gezeigten jüngsten Video „Saint Sebastian“, in dem sie japanische Bogenschützinnen porträtiert, ein strenger Formwille. Nur, dass man das Ordnungssystem nicht erkennen kann, auch nach stundenlangem Sehen nicht. „Je mehr ich versuche zu systematisieren, nach Typen und Archetypen zu suchen, desto mehr stoße ich auf das ungeordnete Innere,“ hat Fiona Tan gesagt. Auch die Gesichter, so markant sie sind, verschwimmen in der ewig gleichen Pose, und erkennt man nicht hier eine Kollegin, dort einen Schauspieler, vermag man am Ende nicht zu sagen, wen man nun genau gesehen hat.

Es ist ein sehr herbes Berlin, in kühlen Wintertönen, dunklen Wohnungen, die Menschen meist in Schwarz, mit blasser Haut. Jenseits aller zeitgeistigen Accessoires hat Fiona Tan etwas Allgemeingültiges gefunden. Es ist nur naheliegend, dass Friedrich Meschede, Leiter des daad-Künstlerprogramms und Kurator der aus Tilburg übernommenen Ausstellung, auf August Sander als Vorbild verweist. Wie der große Kölner Fotograf, derzeit im Berliner Martin-Gropius-Bau zu sehen, versucht auch Fiona Tan eine Bestandsaufnahme der Gegenwart: So viel verändert hat sich nicht. Später einmal wird man auf „Countenance“ blicken wie auf Sanders „Menschen des 20. Jahrhunderts“ und sagen: Das war Berlin zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Eigentlich tut man es heute schon, blickt auf die eigene Zeit, als sei ein Jahrhundert vergangen. Vielleicht ist das der besondere Sog, den diese Arbeit entfaltet.

Akademie der Künste, Hanseatenweg 10, bis 15. Februar. Di bis So 11 bis 18 Uhr, Do bis 20 Uhr. Katalog 22 € .

Christina Tilmann

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