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Kultur: Im Spiegelkäfig

Fremde, arme Kunst: Michelangelo Pistoletto wird 70

Eine Frau sitzt auf einem Stuhl und hält vor sich eine Tasse Tee.

Das allein wäre noch nichts Besonderes, wäre die Frau, die da so versonnen den Löffel rührt, nicht splitternackt. Und würde man, während man sie anschaut, nicht ständig sich selber sehen. Denn das ist das eigentlich Provokante an dieser Situation: Dass man nicht nur den fremden Anblick aushalten muss, sondern auch den eigenen Blick, wie man die Nackte voyeuristisch anstarrt und gar nicht anders kann, als sich im selben Moment dabei zu beobachten. Dass es sich bei der Frau um Maria, die Ehefrau des Künstlers, handelt, macht die Sache auch nicht wirklich besser.

Mit dem Kunstgriff, meist nur sehr geringfügig bearbeitete Fotografien von Menschen an der Umrisslinie auszuschneiden und diese dann auf Hochglanz polierte spiegelnde Stahlplatten zu kleben, hatte Michelangelo Pistoletto vor mehr als vierzig Jahren sein unverwechselbares künstlerisches Wiedererkennungsmerkmal gefunden. Wie so oft bei einem ausgeprägten Stilmittel, wurde diese Erfindung für Pistoletto zum Segen und zum Fluch. Natürlich hat er – wie alle Künstler der italienischen Arte Povera – auch andere Materialien verwendet, Draht und Zeitungspapier zum Beispiel, aus denen er 1966 etwa den „Palla di giornali (Mappamondo)" formte, den „Ball aus Zeitungspapier (Globus)“, der heute zur Sammlung des Museum of Contemporary Art in Los Angeles gehört. Trotzdem war er von Beginn seiner Karriere an immer der Mann mit den Spiegeln – einfach, weil jeder es von ihm erwartete: die geniale Idee als goldener Käfig.

Pistoletto wurde 1933 in der Stadt Biella im Piemont am Südrand der Alpen geboren. Neben der Bildhauerei fiel er in den sechziger und siebziger Jahren vor allem durch Performances und Kunstaktionen auf. 1967 zählte er zu jenen Künstlern, die der Kurator Germano Celant für die legendäre Ausstellung „Ars Povera“ in Genua auswählte, die als Geburtsstunde dieser Kunstrichtung gilt. Pistoletto war da in guter Gesellschaft: Außer ihm nahmen an jener Schau Künstler wie Jannis Kounellis und Mario Merz teil, Giovanni Anselmo und Alighiero Boetti.

Aus der damaligen Aufbruchstimmung erklärt sich auch sein Markenzeichen, der Spiegel: Der Betrachter sollte nicht mehr nur andächtig und bildungsbürgerlich beflissen Kunst konsumieren, sondern sich über seine eigene Rolle und sein eigenes Tun deutlicher als bisher klar werden – und sich dadurch selbst erkennen.

Diesen zeittypisch pädagogischen Ansatz ergänzte Pistoletto durch weitere emanzipatorische Aspekte, wie etwa die Öffnung des Bildraumes in den tatsächlichen Raum; eine Grenzüberschreitung, die damals durchaus metaphorisch als grundsätzliche Grenzüberschreitung gemeint war. In seinen Werken wollte Pistoletto Kunst und Leben verbinden: „Es ist eine Fiktion, die die Realität am dichtesten berührt.“

Anfang der siebziger Jahre entwickelte Pistoletto sein Konzept der „Divisione e Multiplicatione“ weiter und schuf die so genannten „Gabbie specchio“ („Spiegelkäfige"), an Spiegelkabinette erinnernde Konstruktionen, in denen man sich en passant ins Unendliche zu vervielfältigen schien. Kein Wunder, dass ein Kritiker über seine Arbeiten einmal sehr treffend schrieb, sie seien „auf befremdliche Weise gesellig“.

Heute feiert Michelangelo Pistoletto seinen 70. Geburtstag.

Ulrich Clewing

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