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Kultur: Im urbanen Ozean

Ein Höllenlärm erfüllt die Ausstellungshalle. Dort, wo kurz zuvor die Biennale von São Paulo eröffnet wurde, führt die vierköpfige Künstlergruppe Chelpa Ferro aus Rio de Janeiro ihre Performance "Autobang" auf.

Ein Höllenlärm erfüllt die Ausstellungshalle. Dort, wo kurz zuvor die Biennale von São Paulo eröffnet wurde, führt die vierköpfige Künstlergruppe Chelpa Ferro aus Rio de Janeiro ihre Performance "Autobang" auf. Rhythmisch schlägt sie auf ein Auto ein, das unter dem elektronisch verstärkten Geräuschkonzert zu Schrott wird. Ein radikal anderes Bild bietet sich einen Tag später. Vanessa Beecroft aus New York lässt eine Gruppe von fünfzig einzig mit Ballettschuhen bekleideten brasilianischen Models drei Stunden vor geladenem Publikum ausharren, stehend oder sitzend. Die Zerstörungsorgie und die Zelebrierung des Körpers werden verklammert durch das Leitmotiv der Biennale: metropolitane Ikonographien.

Die Themenvorgabe stammt von Alfons Hug, dem deutschen Chefkurator der 25. Biennale von São Paulo, die seit 1951 existiert und nach Venedig die älteste Veranstaltung dieser Art ist. Mit Hug wird die Biennale erstmals in ihrer Geschichte von einem Ausländer geleitet. Der ehemalige Direktor mehrerer Goethe-Institute und Ausstellungsleiter am Berliner Haus der Kulturen der Welt möchte nicht nur "das Bild der Großstadt in der Gegenwartskunst" zeigen, sondern "die Art, wie urbane Energieströme unsere heutigen Künstler beeinflussen".

Hug entschied sich für elf Weltstädte, aus denen jeweils ein Kurator fünf Künstler zur Teilnahme einlud. Der amerikanische Kontinent wird von Caracas, New York und São Paulo repräsentiert, Afrika von Johannesburg, Australien von Sydney, Asien von Peking und Tokio, Europa von Berlin, Istanbul, London und Moskau. Hug selbst war für die Berliner Auswahl zuständig, die Franz Ackermann, Katharina Grosse, Olaf Metzel, Frank Thiel und Michael Wesely umfasst, sowie für die "12. Stadt", Ort der Utopien, mit Beiträgen internationaler Künstler.

Die Probleme großstädtischen (Über-)Lebens sind über nationale und gesellschaftliche Besonderheiten hinaus ähnlich: ungezügeltes chaotisches Wachstum, Verkehrsstau, Luftverschmutzung, Entwurzelung und Ausgrenzung, Gefälle zwischen Arm und Reich, Gewalt und Kriminalität. Bevorzugtes Medium der Darstellung ist die Fotografie, gefolgt von Video und Installation, Objektkunst und Malerei. Eher selten kommt der einzelne Mensch ins Blickfeld, meist als Opfer: Alkoholiker in den Videos von Gillian Wearing aus London, Obdachlose in den Fotos von Boris Mikhailov aus Moskau, aneinander gekettete Insassen einer psychiatrischen Klinik in den Fotos von Chien-Chi Chang aus Taiwan oder modisch ausstaffierte Teenager in fotorealistischen Ölgemälden von Jan Nelson aus Sydney.

Eine Besonderheit bildet die schrille Installation "Art Mama" von Tatsumi Orimoto aus Tokio: Requisiten absurden Theaters mit seiner an Alzheimer erkrankten Mutter als Protagonistin. Das Massenphänom Mensch taucht dokumentarisch überhöht in Fotos von Andreas Gursky auf, in rituell anmutenden Inszenierungen bei Spencer Tunick, der für eine kurze Fotosession hunderte von Nackten auf öffentlichen Plätzen liegen lässt. Den unlösbaren Widerspruch zwischen Individuum und Masse, Stadt und Land, Tradition und Moderne führt Shirin Neshat aus New York in ihrem zweigeteilten, auf gegenüberliegende Leinwände projizierten Video "Soliloquy" vor Augen.

Frank Thiel und Michael Wesely sehen Berlin im Aufbau: die Stadt in Großfotos als Kulisse und zeitschluckende Architekturmaschine. In der Rauminstallation von Lina Kim aus São Paulo verwandelt sich der urbane Organismus in ein überlaufendes Gefäß, dessen Wassermassen aus dem weißem Stoff von Zwangsjacken bestehen. In den Fotos von Ruth Motau aus den Townships von Johannesburg ist die Stadt ein Moloch, dessen Ruinen von den Heimatlosen besetzt werden. Sie wird zum Hort explosiver sozialer Spannungen in der Videoinstallation von José Hernández Diez, der historische Aufnahmen von Plünderungen in Caracas zitiert. Terror verbreiten die inszenierten Hochhausfotos mit Überfällen von Nancy Davenport aus New York. Auf Gewalt folgt Kontrolle: Im Zentrum der Ausstellung steht bedrohlich der mächtige Turm des Schweizers Fabrice Gygi mit auf- und abfahrendem Wächterhaus. Auch die kubanische Künstlergruppe Los Carpinteros hat drei (begehbare) Wachtürme gebaut, die den Blick auf die "12. Stadt" freigeben: auf die poetischbunten Phantasiebauten des Kongolesen Bodys Isek Kingelez oder die beklemmende Sicherheitsstadt "Happyland" der Brasilianer Isay Weinfeld und Marcio Kogan.

Im dreistöckigen, langgestreckten, von Oscar Niemeyer Anfang der Fünfziger erbauten Biennalegebäude - "Flugzeugträger im Ozean der Stadt" (Hug) - werden 190 Künstler aus 70 Ländern gezeigt. Doch so gigantisch das Gebäude, so ausufernd die Auswahl der Werke auch sein mag, die gläsernen Hallen inmitten des Parks erweisen sich mit den zwischen Horror und Fiktion angesiedelten Artefakten und einem von Oasen der Ruhe durchsetzten Parcours als geschützter Ort der Reflexion.

25. Biennale von São Paulo, bis zum 2. Juni; zweisprachiger Katalog in 3 Bänden.

Michael Nungesser

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