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Kultur: In 40 Stunden um die Welt

Ja, er ist wirklich angekommen. Nach dem letzten "Parsifal"-Akt steht er da, inmitten seiner Musiker, die er mit auf die Bühne genommen hat, lässt das Blitzlicht-Gewitter über sich ergehen, nimmt die standing ovations des jubelnden, trampelnden Saales entgegen.

Ja, er ist wirklich angekommen. Nach dem letzten "Parsifal"-Akt steht er da, inmitten seiner Musiker, die er mit auf die Bühne genommen hat, lässt das Blitzlicht-Gewitter über sich ergehen, nimmt die standing ovations des jubelnden, trampelnden Saales entgegen. Er hat es geschafft, er hat es allen gezeigt. Doch seine Hand schnellt nicht zum Victory-Zeichen empor. Wie üblich umspielt nur dieses rätselhafte, introvertierte Lächeln seine Mundwinkel. Ein Blumenstrauß klatscht auf die Bretter: Barenboim reicht ihn an seinen Konzertmeister weiter. Die Sänger des Abends sehen erschöpfter aus als er. Dabei haben sie nur dies eine Bühnenweihfestspiel absolviert. Für ihren Chefdirigenten dagegen war es die zehnte Wagner-Aufführung innerhalb von zwei Wochen.

Einen Marathon will Daniel Barenboim nicht in dem gewaltigen Unternehmen sehen, auch keinen Weltrekordversuch. Mag es vielen wie moderner musikalischer Zehnkampf vorkommen - für ihn ist das Projekt nur eine "ungeheure Reise". In der Tat hält es in den Musikdramen Wagners die Protagonisten selten lange an einem Ort, alle sind ununterbrochen auf der Suche, zumeist nach sich selber. Und so machte sich auch Daniel B. auf den langen Weg: Immer wieder durch Nacht zum Licht, durch die dunklen Seelenlandschaften der Wagnerschen Figuren bis hin zum Liebestod, zum Verklärungsschluss. Zur Rechten wie zur Linken sah er manchen niedersinken, doch er schritt weiter voran, so lange, bis schließlich die immer noch ungeheuerlich-rätselhaften Worte erklangen: "Erlösung dem Erlöser."

Nur einmal, ganz kurz vor ultimo, keimt Unsicherheit in der Staatsoper auf: Das Publikum sitzt längst zum Finalakt des "Parsifal" bereit, aber der Maestro zeigt sich nicht. Minutenlanges Warten bei halb abgedimmtem Saallicht. Dann aber taucht der kleine Kopf aus dem Graben auf, und das Orchester holt noch einmal Luft, um mit großem, ruhigen Atem den Karfreitag zu verzaubern.

Barenboim schleppt sich nicht strauchelnd ins Ziel, er legt auch keinen verkrampften Endspurt vor. Mit einer Konzentrationskraft, die man nur titanisch nennen kann, hält er die Spannung bis zum letzten Takt. "Die erste Weltumseglung im Reiche der Kunst", hat Friedrich Nietzsche 1876 Richard Wagners Gedankenreise zu den ersten Bayreuther Festspielen genannt. 126 Jahre später durchschreitet ein einziger Dirigent das Universum des Komponisten mit einer Sicherheit, die nicht nur seine aus aller Welt nach Berlin gereisten Fans verzaubert - die Mexikanerin zur Rechten, den Italiener zur Linken, die Japaner im Rücken und die Australier in der vorderen Reihe -, sondern die auch den Kritiker in ihrer Mitte stumm macht vor Erstaunen.

Anders als bei den meisten seiner Kollegen aus der Champions League der Kapellmeister ist auf Daniel Barenboim selten Verlass: Bei Claudio Abbado kann man sich sicher sein, dass er seine Auffassung über die Interpretation eines Werkes nicht zwischen zwei Aufführungen ändert. Beim genialischen Argentinier dagegen weiß man nie, ob er nicht in der Premiere plötzlich alles ganz anders macht als in der Probe. Das lieben die Musiker an ihm, das birgt aber auch die Gefahr eines spontanen Absturzes, gerade bei einem Balanceakt auf dem Höhenkamm des Wagner-Gebirges, wo links und rechts Schlünde von unergründlicher Tiefe gähnen.

Darum sollte man eigentlich jeden Barenboim-Abend aufzeichnen. Es könnte ein unvergesslicher daraus werden - so wie am achten Zyklus-Tag, bei "Tristan und Isolde". Mit dem Liebestrank-Drama debütierte er 1981 in Bayreuth, dieses Stück des brennenden Verlangens, des inneren Feuers, das raus muss aus der Mördergrube des Herzens, ist sein Stück. Er dirigiert mit der Verve eines 23-Jährigen, hinreißend hingerissen, leidenschaftlich, glutvoll - und hat doch das Geschehen stets voll unter Kontrolle. Die Musiker hängen an seinen Händen, nehmen jede Geste ab und verwandeln sie in Klänge von berauschender Schönheit.

Mit dem Mut der Tradition

Überhaupt, die Staatskapelle Berlin steht jetzt schon als "Orchester des Jahres" fest: Vielleicht braucht man wirklich den ungeheuren Stolz dieser Traditions-Truppe, um Wagners Welt in der Balance zwischen dem elektrisierenden, farbsatten Streichersound, dem zutiefst menschlichen Gesang der Holzbläser und dem seidenmatt strahlenden Blech so authentisch erwecken zu können - ganz ohne abgedeckten Orchestergraben.

"Waltraud Meiers Spitzentöne tendieren hier leider schon zur Schärfe", werden die Fans später einmal sagen, wenn sie den Raubmitschnitt abhören, der hoffentlich an diesem 4. April entstanden ist, "aber ihre Bühnenpräsenz als Isolde, die Wucht ihrer Deklamation sind unübertroffen." Auch über René Papes berührenden König Marke wird man sich einig sein, über den raschen Reifeprozess des Tenors Christian Frantz. Und die Kenner werden sich daran erinnern, dass die vielseitige Wagner-Darstellerin Michaela Schuster, die 2002 noch kaum einer kannte, damals kurzfristig als Brangäne einsprang und sich als Nachfolgerin Waltraud Meiers empfahl. Das Tondokument des "Meistersinger"-Abends, bei dem Barenboim manchmal etwas zuviel Druck im Kessel macht, wird von den Qualitäten des Ensembles künden - vor allem von Stephan Rügamers keckem, klangschönen David - und davon, dass Produktionen im Repertoirealltag auch besser werden können: Robert Holl als Sachs und Andreas Schmidt als Beckmesser sind aufeinander eingespielt wie Hauser und Kienzle, Daniel Barenboims Lieblingssopranistin Emily Magee hat seit der Premiere 1998 zur technischen Souveränität auch die interpretatorische hinzugewonnen. Francisco Araiza ist als Stolzing dagegen mittlerweile eine Zumutung.

Der letzte Abend schließlich beginnt, das wäre auch auf der Live-Aufnahme zu hören, erschreckend: Barenboim überdehnt exzentrisch die Generalpausen, lässt das "Parsifal"-Vorspiel in lauter kleine Mosaiksteinchen zerfallen. Dann aber findet er zum Glück doch noch den rechten Puls, ein ruhiger Atemrhythmus stellt sich ein, auf dem die Sänger wie selbstverständlich durch den Abend gleiten: John Tomlinson schafft es, die Tiraden des Gurnemanz so detailreich zu gestalten, dass sie nie ermüden, Robert Gambill ist als Tor eine reine Freude, Deborah Polaskis vielgesichtige Kundry Sünderin, Urmutter und Pieta zugleich.

"Und nun fragt Euch selber, ihr Geschlechter jetzt lebender Menschen! Ward dies für Euch gedichtet? Habt ihr den Mut, mit eurer Hand auf die Sterne dieses Himmelsgewölbes von Schönheit und Güte zu zeigen und zu sagen: es ist unser Leben, das Wagner unter die Sterne versetzt hat?" Nietzsches freche Frage von 1876 kann Wagnerianer von heute nicht mehr erschrecken. Die Herausforderung, der sich die Besucher des Berliner Zyklus von 2002 stellen, ist vor allem eine ans Sitzfleisch. Barenboims große Wagner-Fahrt ist eine Vergnügungsreise fürs Publikum. Mehr Kaptain Hook als James Cook ist der Maestro nämlich nicht darauf aus, einen vermeintlich erforschten Kontinent neu zu vermessen, gar die bislang übersehene Meerenge zu entdecken. Einer Kreuzfahrt durch bestens bekannte Gewässer gleichen auch Harry Kupfers Inszenierungen: Handwerklich durch ihre detailverliebte Meisterschaft immer wieder beeindruckend, bleiben es doch interpretatorische Paraphrasen des vielfach Erprobten. Klüger als zuvor fahren die meisten der weltenbummelnden Wagnerianer also wahrscheinlich nicht aus Berlin ab. Doch ihr Kopf und ihr Herz sind voll von beglückenden Eindrücken. Was kann man von einem Urlaub Schöneres sagen?

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