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Kultur: In 65 Büchern um die Welt

Visionär, Romantiker, Mythenschöpfer: Vor 100 Jahren starb Jules Verne

Was die Wirkung seiner Romane auf „kommende Generationen“ betrifft, machte sich Jules Verne vorsichtshalber keine Illusionen: „Entweder liest man sie nicht, oder man vergisst sie gleich wieder nach der Lektüre“. Hier irrte der Prophet. Wer kennt nicht Kapitän Nemo und die Nautilus, den exzentrischen Ballonfahrer Fergusson, Käpt’n Grant, Strogoff, den Kurier des Zaren oder Phileas Fogg, die mythischen Helden der „Außergewöhnlichen Reisen“. Und sei es nur aus einem der über 160 mehr oder weniger gelungenen Verne-Verfilmungen.

Verne hat uns immer noch viel zu geben, mehr als die Nachricht neulich, ein medizinballgroßer Meteorit sei über Berlin verglüht. In dem jetzt erstmals in seiner Originalfassung erschienenen Roman „Die Jagd auf den Meteor“ lässt Jules Verne einen riesigen Boliden auf die Erde stürzen, der uns heute mit einem Schlag aus der Finanzmisere helfen könnte, denn er ist aus purem Gold. Doch als bibelfester Menschenkenner sah der Autor voraus, dass so ein Schatz nur zu bösen Verteilungskämpfen führt, und ließ ihn im Meer verschwinden.

Verne war bei aller soliden Skepsis von der modernen Technik als „Zukunftsmotor“ überzeugt. Bei ihm gibt es schon sensationelle Errungenschaften von der vollautomatisierten Stadtbahn, gasbetriebenen Personenkraftwagen, rollenden Bürgersteigen, „photographischer Telegraphie“, Fernsehtelefonen, mechanischen Ankleideapparaten bis zum Prototyp des elektrischen Stuhls. Er ist nicht, wie man immer wieder liest, der Erfinder der Ballone, Luftfähren, Raketen und Unterseeboote, aber er hat sie nach seinem Kommando in Bewegung gesetzt und ihnen eine mythische Aura verliehen.

Geboren 1828 in Nantes, studierte er als braver Bürgersohn Jura in Paris, wo es ihn aber bald ins Vaudeville-Milieu verschlug. Über ein Jahrzehnt blieb er hartnäckig aufs Theater fixiert, bis eines Abends eine Dame durchs Fenster hereinkam, „gekleidet wie eine Bibelverkäuferin der Heilsarmee, die Arme voller Zirkel, Sextanten und Sphärometern... Sie sagte: ,Jules, genug der Dummheiten!‘ Die Dame war hager und hässlich... Verne erhob sich. ,Mit wem hab ich die Ehre?‘ fragte er. ,Ich bin die Wissenschaft‘, erwiderte die Besucherin.“ Nach Art einer Verkündigungsszene, wie es sich der italienische Schriftsteller Alberto Savinio in seinem schönen Verne-Aufsatz ausmalt, muss sich die Erweckung des Vaudeville-Schreibers Verne abgespielt haben. Wobei die Jungfer von niemand anderem auf ihn angesetzt worden sein dürfte, als von dem gestrengen Verleger Hetzel, der Verne verpflichtete, ihm fortan zwei Romane pro Jahr zu liefern.

1863, mit seinem Romanerstling „Fünf Wochen im Ballon“ gelang ihm der Durchbruch. Sein nächster Roman „In achtzig Tagen um die Welt“ (soeben in Berlin neu verfilmt) begründete seinen bis heute anhaltenden Weltruhm. Es ist dies die Geschichte der sagenhaften Wette eines englischen Gentleman gegen den Rest der Welt, sprich: gegen fünf erlauchte Mitglieder des Londoner „Reform-Clubs“. Gegenstand der Wette: die Umrundung der Erde in der Rekordzeit von nur 80 Tagen. Die Poesie des Reisens liegt für diesen glücklich Getriebenen darin, die An- und Abfahrtszeiten einzuhalten, Anschlüsse nicht zu verpassen und pünktlich auf die Minute wieder zurück zu sein.

Das Sensationelle an diesem Schriftsteller sei, so meint der Verne-Biograf Volker Dehs, dass Verne als Erster auf die Idee gekommen sei, „in die Gattung des Abenteuer- und Reiseromans wissenschaftliche Fakten systematisch einzuführen“.

Tatsächlich bestehen die Abenteuer für den Leser der „Außergewöhnlichen Reisen“ seitenweise im Studium von Formeln, Meridianberechnungen, „Hyperbeln und Parabeln“, „ein bisschen Algebra“, in enzyklopädischen Einzelheiten über Berge, Meere, Mondlandschaften etc., die ein echter Verne-Enthusiast keinesfalls missen möchte. „Vernes eigentliches literarisches Verdienst“, so der Schriftsteller Arno Schmidt, liege darin, dass er als Erster „den Groß-Nachweis geführt hat: wie die Errungenschaften des Technikers ... nicht nur nicht poesie-zerstörend wirkten; sondern vielmehr unerhört neue-reiche Gebiete dem Dichter eröffneten!“ In diesem Sinne haben Schriftsteller wie Julio Cortázar, Umberto Eco, Georges Perec, José Samarago oder Ror Wolf Vernes Erfindungen und Figuren ihren Romanen spielerisch einverleibt.

Der wandelnde „Chronometer“ Phileas Fogg oder Kapitän Nemo sind Archetypen wie der Ichthyosaurus, jenes Reptil aus vorsintflutlichen Zeiten „mit Augen so groß wie ein Menschenkopf“, dem Professor Lidenbrock auf seiner Expedition ins Innere der Erde Beine macht.

Im Sommer 1968 schrieb Ernst Jünger unterwegs nach Island in sein Tagebuch, Jules Vernes „Reise zum Mittelpunkt der Erde“ habe ihn zu dieser Schifffahrt angeregt. „Natürlich wusste Verne, dass die Erde nicht hohl ist; er hat auch hinsichtlich der Wissenschaft von der künstlerischen Freiheit großzügig Gebrauch gemacht. Gerade darauf beruht die Anziehung“. Als Jünger dies notierte, tobten auf den Straßen die jungen Achtundsechziger. In Seminaren oder teach-ins fochten sie haschischrauchend für „Basis und Überbau“ und gegen die bourgeoise Kultur der „herrschenden Klasse“. Mit der Entdeckung der Trivialliteratur wurde auch Jules Verne als Schriftsteller aufgewertet.

Bei Fischer und Diogenes erschienen seine Bücher damals in neuen, aktualisierten Übersetzungen in hohen Auflagen. Auch in der DDR wurde Verne gedruckt. Vielleicht ist die schöne Internetseite des Chemnitzer Andreas Fehrmann (www.j-verne.de) ein später Reflex aus jenen Jahren, als die UdSSR eine Raumkapsel mit Hündin (wie in Vernes satirischer Reise um den Mond) ins All schoss, und man noch an sozialistische Wunder glaubte.

Verne hat in seinen über 65 Romanen die ganze Welt bereist, nur Deutschland ist nahezu terra incognita. Zehn Jahre nach dem deutsch-fränzösischen Krieg schipperte er einmal auf seiner Dampfyacht nebst 17-köpfiger Besatzung durch „die Provinzen Schleswig-Holstein“ von Rendsburg nach Kiel. „Was Deutschland anbetrifft, so legten wir uns natürlich von vornherein die, unter den gegebenen Umständen notwendige Reserve auf“, erinnert sich Vernes älterer Bruder Paul, der ein Journal dieser Reise führte.

Was wäre Verne, der moderne Mythenerfinder, dessen Werke schon zu Lebzeiten in ein Dutzend Sprachen übersetzt wurden, ohne seine Illustratoren Benett, Riou, Neuville und anderen. Die suggestiven Holzstiche verleihen den Texten eine atmosphärische Dichte, die der Autor mit seinen literarischen Mitteln allein wohl nicht erreicht hätte. Diesen Gentlemen, die in der größten Bedrängnis bei allen Feuer- und Wasserproben und selbst auf dem Mond im feinen englischen Tuch stets Haltung bewahren, begegnen wir auf den Bildern von Paul Delvaux, Max Ernst oder Alberto Savinio wieder.

Die jüngsten Publikationen, die Jubiläumsveranstaltungen und Ausstellungen in Amiens, Nantes und Paris zu Jule Vernes heutigem 100. Todestag werden seine Befürchtung aufs Schönste widerlegen, „der unbekannteste aller Menschen zu sein“.

Richard Schroetter

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