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Kultur: In deinem Herzen lebt ein Wolf - Der Autor erzählt vom wilden Kind in jedem Menschen

Das Wolfskind aus dem Aveyron hat eine Lebensgemeinschaft mit anderen Menschen nicht gekannt, als man es im Jahre 1800 in Südfrankreich fing und wurde nach der Untersuchung durch Experten zu einem hoffnungslosen Fall erklärt. Nur ein junger Arzt namens Itard hielt den Jungen für entwicklungsfähig und bewies, dass er bis zu einer gewissen Grenze zivilisierbar war, indem er ihn bei sich aufnahm und ihn lehrte, ein Kind zu sein.

Das Wolfskind aus dem Aveyron hat eine Lebensgemeinschaft mit anderen Menschen nicht gekannt, als man es im Jahre 1800 in Südfrankreich fing und wurde nach der Untersuchung durch Experten zu einem hoffnungslosen Fall erklärt. Nur ein junger Arzt namens Itard hielt den Jungen für entwicklungsfähig und bewies, dass er bis zu einer gewissen Grenze zivilisierbar war, indem er ihn bei sich aufnahm und ihn lehrte, ein Kind zu sein. Diese wahre Geschichte erzählt Mordicai Gerstein "für das wilde Kind in allen Menschen" gleich zweimal. Mit beeindruckenden Illustrationen, die starke Aussagekraft haben, versieht er seine Erzählung "Der wilde Junge", die die Frage nach dem Ursprung unseres Seins aufwirft und zeigt, dass sie immer nur unvollständig zu beantworten sein wird.

Der wilde Junge erhält einen Namen, er lernt zu fühlen und zu denken wie ein zivilisierter Mensch, aber das Sprechen erlernt er bei aller Anstrengung nicht. Seine Freude angesichts elementarer Naturerlebnisse ist unverkennbar, aber er kann sie nicht versprachlichen und also nicht differenzieren und bleibt denen, die ihn als Mensch angenommen haben und ihn lieben, letztlich doch ein Rätsel.

Die gleiche Geschichte erzählt Gerstein in "Victor", aber dieses Mal wendet er sich an ältere Leser - Jugendliche ab 12 etwa -, gewährt ihnen einen tieferen Einblick in die Problematik der Zivilisierung des Wolfskindes und erzählt die Geschichte bis zu ihrem Ende, das er den jüngeren Lesern nicht zumutet. Wir erfahren, wie Itards Erziehung und Unterricht im Einzelnen aussah, wie er zu kämpfen hatte gegen die wissenschaftlichen Auffassungen seiner Kollegen, die Victor für schwachsinnig erklären, und gegen die Barrieren, die seine eigene Erziehung in ihm aufgebaut hatten.

Gerstein gelingen beeindruckende Schilderungen der Versuche, die Sinne des Kindes zu schärfen. Mit unendlicher Geduld bemühen sich der Arzt, aber vor allem auch die Ziehmutter, Madame Guérin, dem kleinen wilden Wesen, das beispielsweise Kälte nicht zu spüren scheint, Empfindungen nahe zu bringen, die für Menschenkinder in der Regel die ersten Tage, Wochen und Monate bestimmen. Er wird gebadet in warmem Wasser, wird massiert und gestreichelt, wird in ein Bett mit Laken und Federbetten gesteckt. Sein Gehör, Sehvermögen und Geschmackssinn werden geweckt und den Höhepunkt seiner Sozialisation bildet die Aneignung moralischer Kategorien wie Recht und Unrecht.

Vorsichtig lässt der Autor uns gelegentlich kurze Blicke aus Victors Perspektive wagen, die aber in ihrer Behutsamkeit immer darauf verweisen, dass dem Nachempfinden seiner Gefühle enge Grenzen gesetzt sind, so dass er in erster Linie aus der Sicht der anderen Figuren gesehen wird.

Am Ende steht eine Traumszene, die Itards Arbeit sowohl als Erfolg als auch als Scheitern interpretiert. Dem Erfolg, aus Victor ein Wesen gemacht zu haben, das in der menschlichen Gesellschaft überlebensfähig ist, das Sprache verstehen, sogar ein paar Worte zu schreiben und lesen, aber niemals richtig sprechen gelernt hat, steht der Traum des Arztes gegenüber: Victor und Julie, die Tochter seiner Ziehmutter, gehen eine Ehe ein, haben ein Kind, und Victor spricht. Genau daran aber ist Itard in Wirklichkeit gescheitert. Er war weder im Stande, Victor das Sprechen beizubringen noch ihn seine Sexualität leben zu lehren, weil er zu spät erkannte, dass die Victor angemessene Sprache die Sprache der Zeichen gewesen wäre und weil die Sexualität ihm selbst vermittels eigener Erziehung verschlossen und also nicht vermittelbar war. Der Doktor erklärt die Erziehung für beendet.

Aus Viktor ist ein "verängstigt mit eingezogenen Schultern dahinhuschender dicker Gnom" geworden. Er stirbt früh. Die Mitbürger aus der unmittelbaren Umgebung sehen solche Feinheiten nicht. Bäcker, Kaufmann usw. klatschen dem Doktor bewundernd Beifall dafür, dass er den Wilden zu einem Bürger gemacht hat, "wie wir es sind": "Victor ist ein braver Junge" lautet der letzte Satz. Ein verwirrendes, sehr lesenswertes Buch.Mordicai Gerstein: Der wilde Junge. Eine wahre Geschichte. Aus dem Englischen von Richard Rosenstein. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 1999. 40 Seiten. 28 DM. Ab sechs Jahren.

Mordicai Gerstein: Victor. Roman über den Wolfsjungen aus dem Aveyron. Aus dem Englischen von Bettine Braun, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 1999. 250 Seiten. 36 DM. Ab 12 Jahren.

Monika Klutzny

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